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Ein Arzt und Vater

Jean-Claude Romand ist Mediziner, Forscher, Dozent, hat eine Frau und zwei Kinder. Er lebt in einer großartigen Welt. Nur eines fürchtet er so sehr, dass er bereit ist, es mit allen Mitteln zu bekämpfen: die Wahrheit

Madame und Monsieur Romand, deren Leben es ist, sich um Forst und Boden im französischen Jura zu kümmern, sind stolz auf ihr einziges Kind, erzählen gern den Nachbarn von ihrem Sohn.
Er, den sie 1954 zur Welt brachten, hat es in ihren Augen geschafft. Er hat studiert, ist ein anerkannter Mediziner und Forscher geworden, berät in dieser Rolle französische Minister. Er hat eine angenehme Frau gefunden, Florence, sogar aus besseren Kreisen. Er hat zwei wunderbare Kinder mit ihr, Antoine und Caroline, fünf und sieben Jahre alt. Er fährt schicke Autos, derzeit einen 250 000 Francs teuren BMW. Er fliegt beruflich nach Rio, nach Tokio und nach New York und arbeitet in einer Stadt, die zwar nur ein, zwei Autostunden und einen Grenzübergang entfernt vom Haus der Romands, aber doch weit weg vom einfachen Leben eines Forstwirts und seiner Frau liegt, in Genf, in der Schweiz.
Sie sehen, ihr Sohn hat ein anderes Leben, aber sie spüren, er bleibt ihrem Leben treu.

Er ruft sie Abend für Abend an, um Gute Nacht zu wünschen, besucht sie jeden Donnerstag frühmorgens, wenn er auf dem Weg zur Universität in Dijon ist, an der er Vorlesungen hält. Er parkt mit seiner Limousine vor dem holzvertäfelten Haus, frühstückt mit ihnen und erzählt von der zurückliegenden Woche und den Plänen für die nähere Zukunft.
Bei einem dieser Besuche bringt er ihnen ein Geschenk mit, ein Bild in einem großen schweren Rahmen. Darauf zu sehen: das aus den Nachrichten bekannte Gebäude in Genf, die Zentrale der Weltgesundheitsorganisation, der WHO – und ein kleines Kreuz auf der Höhe eines Fensters.

Maman, Papa, schaut, genau dort ist mein Büro, dort arbeite ich.

Er, Dr. Jean-Claude Romand, bringt ihnen etwas von seinem Leben in ihr Leben.

Das gemeinsame Leben beginnt damit, dass sich Aimé Romand, der wie sein Großvater und sein Vater Forstarbeiter ist, in Anne-Marie verguckt und sie heiratet. Er gründet in Clairvaux-les-Lacs und den umliegenden Dörfern im französischen Jura eine forstwirtschaftliche Genossenschaft. Die anderen Mitglieder der Genossenschaft wissen, es gibt keinen besseren als Aimé, denn die Romands gelten seit Generationen als besonders rechtschaffen. „Ein echter Romandschädel“, sagen sie, ein wenig halsstarrig, aber hart arbeitend und aufrichtig. 1954 bekommen die Romands ihren Sohn. Ein intelligentes und braves Kind, finden die Nachbarn, die Verwandten und später die Lehrer. „Ein Romand – ein Wort, das Wort eines Romand glänzt wie Gold“, sagen ihm seine Eltern. Manchmal muss Jean-Claude aber Dinge verheimlichen. Seine Mutter kränkelt oft, im Dorf heißt es, in ihrem Leben sei es öfter Nacht als Tag. Um ihr Kummer zu ersparen, soll Jean-Claude auf Anraten seines Vaters häufiger verbergen, was er fühlt. Nicht aber lügen, denn für einen Romand, so bläut ihm sein Vater ein, gibt es nichts Schlimmeres. Als ihr Sohn ihnen Jahrzehnte später das Bild überreicht, schenkt er ihnen nicht nur eine Aufmerksamkeit, sondern eine Lüge.
Das Bild hängt von nun an mitten im Wohnzimmer seiner Eltern.

Als ihr Sohn Jahre später spürt, seine Lüge könnte aufgedeckt werden, folgt auf die Lüge eine gewaltige Tat. Sie nimmt ihren Lauf innerhalb weniger Stunden, am 9. Januar 1993, einem Samstag.
Jean-Claude Romand, mittlerweile 38 Jahre alt, geht tief in der Nacht in das Schlafzimmer seines Hauses und erschlägt seine schlafende Frau. Er benutzt dafür ein Nudelholz. Wenige Stunden später wachen seine Kinder auf. Maman schläft noch, sagt er und legt ihnen im Wohnzimmer das Video von den drei kleinen Schweinchen ein. Dann geht er in die Küche und bereitet für sie zwei Schüsseln Schokopops mit Milch zu. Er setzt sich für eine halbe Stunde zu ihnen vor den Fernseher. Er legt die Hand auf die Stirn seiner Tochter und sagt, sie sei heiß. Sie solle mit nach oben ins Kinderzimmer kommen, sie könnte Fieber haben. Leg dich doch bitte auf den Rücken, sagt er ihr. Dann erschießt er seine Tochter im Kinderbett, mit einem Gewehr, schallgeschützt, und deckt ihren Körper zu. Danach bringt er seinen Sohn hoch und erschießt ihn, rücklings im Kinderbett daneben. Er holt die Post aus dem Briefkasten, fährt zum Elternhaus, sein Vater öffnet ihm das Tor. Unter dem Vorwand, die Belüftung funktioniere nicht, lockt er den Vater in sein ehemaliges Kinderzimmer – dort schießt er ihm zweimal in den Rücken. Er geht zu seiner Mutter ins Wohnzimmer, erschießt sie und darauf ihren Labrador, von dem er ein Foto in seiner Brieftasche trägt.
Was war geschehen? Warum löscht ein bis dato angesehener Arzt, ein sorgender Vater, ein loyaler Ehemann seine Familie aus?

Der Ursprung dieser Tat liegt etwa 20 Jahre zurück. Sie beginnt mit einer Urlüge.
Eigentlich will der 18-jährige Jean-Claude Romand wie sein Vater Forstwirt werden, auch er liebt den Wald. Für die Aufnahmeprüfung zum Studium belegt er einen Kurs an einem renommierten Lycée in Lyon. Seine Mitschüler sind Kinder wohlhabender Ärzte und Anwälte, ein Forstmeister ist für sie nichts anderes als ein Bauer. Bald reift in ihm das Vorhaben, einer von ihnen zu werden. Sein Vater ist erst enttäuscht, aber bald schon stolz auf den Entschluss seines Sohnes, sich an der medizinischen Fakultät einzuschreiben.
Ein weiterer Grund, Medizin zu studieren, ist ein Mädchen namens Florence, eine entfernte Cousine, die Romand von Familienfesten kennt, ein gut aussehendes Mädchen, das gern tanzt, auch Ärztin werden will und von dem er sich nicht nur Kinder, sondern ein bürgerliches Leben erhofft. In Lyon freundet er sich auch mit Luc an, dem Sohn einer alteingesessenen Ärztefamilie. Er studiert zusammen mit den beiden, geht mit ihnen in Kneipen und in die Berge, lässt sie von sich abschreiben und hilft bei kniffligen Fragen. Im Frühjahr 1975 schläft Florence erstmals mit Romand, trennt sich aber bald darauf wieder von ihm, kurz vor einer wichtigen Prüfung. Romands Tage werden grauer, schwerer. Er, den seine Freunde als strebsam und intelligent beschreiben, verpasst die Prüfung mutwillig, sieht vom Bett aus dem Vorrücken der Zeiger antriebslos zu. Am Nachmittag rufen ihn seine Eltern an und fragen ihn: „Wie ist die Prüfung gelaufen, Jean-Claude?“
„Gut“, antwortet er.
Sieht er mit dieser verpassten Prüfung seinen Traum in Gefahr? Traut er sich unter seinen großbürgerlichen Freunden die Universität vielleicht doch nicht zu? Will er seinen Vater nicht enttäuschen? Will er seiner Mutter, jetzt, da er selbst spürt, was eine Depression anrichten kann, umso mehr keinen Kummer bereiten?
Romand versucht nicht einmal, dafür zu sorgen, dass seine Lüge wahr wird. Drei Wochen später tritt er zu den Nachprüfungen nicht an, verkündet vielmehr, er habe das zweite Semester bestanden. Irgendwann in diesen Tagen beschließt er, die Lüge auszubauen, Tag für Tag, Jahr für Jahr.
Im dritten Semester bleibt er der Uni fern, schließt sich monatelang in seine Wohnung ein. Eines Tages klingelt Luc, sein guter Freund, an der Tür. Er solle sich nicht hängen lassen, Mädchen seien launenhafte Geschöpfe, sagt Luc. Da erzählt ihm Jean-Claude, er habe Krebs. Er hat sich das so ausgemalt. Wenn er Krebs hätte, ergibt sein Rückzug einen Sinn. Danach nimmt er sein Studium wieder auf, lässt verlauten, der Krebs sei besiegt, belegt die gleichen Vorlesungen wie seine Freunde, absolviert allerdings keine Prüfungen, ist bis zum zehnten Semester weiter nur auf dem Examensstand des zweiten; bei Klausuren achtet er darauf, dass er vor und nach ihnen auf den Fluren vor den Prüfungsräumen gesehen wird, obwohl er nicht teilnimmt. Zwischenzeitlich hat er Florence doch von sich überzeugt, sie heiraten 1984. Ein Jahr später, 1985, besteht Florence ihr pharmazeutisches und er angeblich sein medizinisches Examen: Dr. Jean-Claude Romand – der gleich einen Ruf als Forscher an ein Institut in Lyon erhält und ungewöhnlich schnell auch den zur WHO.
Die Romands ziehen bald darauf in ein renoviertes Landhaus nach Prévessin, in eine Siedlung der Bessergestellten nahe dem Genfer See. Sie fährt gern mit dem Volvo in die Stadt, er zur WHO, damals noch im Mercedes. Abends treffen sie sich oft mit Luc, der nebenan mit seiner Familie wohnt und Landarzt geworden ist. Romand bringt seinen Kindern, im Jahr 1985 und 1987 geboren, zu ihren Geburtstagen Geschenke seiner Vorgesetzten mit. Seine Frau schreibt Dankesbriefe, lernt seine Chefs aber nie kennen. Es gibt sie ja nicht. Was ist aus einer anfangs kleinen Lüge geworden? Ein Doppelleben? Eher Romands einziges Leben.
„Aber warum das alles?“, fragt die Richterin ihn.
Er, schwarzer Anzug, dunkles Polohemd, offener Kragen, eine große Brille, zuckt ratlos mit seinen Achseln.
„Ich stelle mir Tag für Tag diese Frage, seit 20 Jahren. Ich weiß keine Antwort.“
Sommer 1996, Bourg-en-Bresse, Standort des Gerichts, das über Jean-Claude Romand urteilen soll. Er sitzt seit drei Jahren im Gefängnis der Stadt, Rue du Palais 6, 01022 Bourgen-Bresse. Im Saal liegen in einer Vitrine die Beweismittel. Ein Karabiner, ein Schalldämpfer, Tränengasspray, Fotos aus dem Familienalbum: Antoine, der vier Kerzen auf einem Geburtstagskuchen ausbläst, Florence und Jean-Claude Romand Arm in Arm, verliebt sehen sie aus. „Das Soziale war eine Lüge, das Emotionale nicht“, sagt er zur Richterin.
Wie finanziert dieser Vater und Ehemann, der kein Geld als Arzt verdienen konnte, das teure Leben der Romands? Wie kann er seine Familie und seine Freunde jahrzehntelang täuschen? Wie lebt er mit dieser Schuld? Neben den Strafbehörden und den Angehörigen der Opfer beschäftigen sich drei Menschen am intensivsten mit dieser Frage:

Luc Ladmiral, sein Freund;
Corinne Hourtin, seine Geliebte;
Emmanuel Carrère, ein Schriftsteller.

Luc Ladmiral und Jean-Claude Romand, der eine gut aussehend und locker, der andere immer ein Pfund zu viel auf den Rippen und zurückhaltend, sind das geworden, was man beste Freunde nennt. Sie verbringen Urlaube in Italien zusammen, heiraten fast zeitgleich und werden Väter; ihre Kinder, deren Taufpaten sie sind, sind miteinander befreundet. Sie vertrauen sich ihre Geheimnisse an und bewahren einander vor dummen Liebesaffären. Jeder weiß über das Leben des anderen Bescheid, denkt Luc.

In einer Montagnacht im Jahr 1993 bekommt Luc Ladmiral gegen vier Uhr einen Anruf, zwei Tage nachdem die Familie seines Freundes ermordet wurde, wovon bislang weder Ladmiral noch sonst jemand etwas weiß. Bei den Romands brennt es. Als er am Haus ankommt, schlagen Feuerwehrleute gerade zwei Leichen in Plastiksäcke ein, die Kinder der Romands. Über ihrer Mutter liegt ein Mantel. Luc streift der toten Florence durchs Haar und zeigt einem der Feuerwehrleute eine Wunde. Wahrscheinlich ist ihr ein Balken auf den Kopf gefallen, bekommt er zur Antwort. Dann sieht er seinen Freund Jean-Claude, der mit schweren Verbrennungen abtransportiert wird. Luc Ladmiral verlässt das Grundstück und betet, zu Hause angekommen, mit seiner Frau, dass ihr Freund nicht aus dem Koma erwacht. Florence, Caroline und Antoine bedeuten alles für ihn, denken sie. „Wie soll er zukünftig nur ohne sie auskommen?“
Sie ahnen nicht, dass der Brand der zweite Schritt einer Tat ist, die finale Konsequenz einer Lüge, die sie selbst über Jahre geglaubt haben und die auch zu ihrem Leben wurde.
Zwei Tage nachdem er seine Familie ermordet hat, verschüttet Romand gegen drei Uhr nachts Benzin im Speicher, dann über Caroline, Antoine und Florence; zuletzt im Treppenhaus. Er zieht seinen Pyjama an, legt Feuer, erleidet schwere Verbrennungen, der Rauch breitet sich im Haus aus, er stopft Hemden in den Türspalt und will sich neben Florence legen. Das Schlafzimmer zündet er nicht an. Als er keine Luft mehr bekommt, öffnet er das Fenster, die Feuerwehrleute retten ihn; ein halbherziger Versuch, sich umzubringen.
„Ein kleiner Zwischenfall, eine Ungerechtigkeit können jemanden in den Wahnsinn treiben. Verzeih mir, Corinne, verzeiht mir, meine Freunde, verzeiht mir, ihr braven Mitglieder des Elternbeirats, die ihr mir die Fresse polieren wolltet.“
Diese kryptischen Zeilen finden Ermittler in Romands Auto. Der „Zwischenfall“ ist eine Lappalie. Es hatte Streit gegeben im Elternbeirat der Schule, auf die sowohl die Kinder der Romands als auch die der Ladmirals gehen. Im Zuge der Auseinandersetzung lernte Florence aber eine Frau kennen, deren Mann bei der WHO arbeitet. „Wollen Sie nicht zur Mitarbeiterweihnachtsfeier kommen?“, fragte sie Florence. Sie wisse nichts davon, erwiderte diese. „Jetzt muss ich mit meinem Mann ein ernstes Wort reden.“
Romand ist es bis dahin über Jahre gelungen, sein Lügenkonstrukt aufrechtzuerhalten. Einerseits besitzt er das Talent, Gesprächsthemen auf andere Sachverhalte zu lenken, wenn es um seinen Beruf geht. Deswegen gilt er als bescheiden. Anderseits trennt er Berufliches von Privatem. Nicht einmal seine Frau kennt eine Büronummer, nur die des Piepers. Ruft sie an, meldet er sich umgehend zurück. Er kauft sich Stempel und Visitenkarten, holt sich Broschüren aus dem Besucherbereich der WHO, lässt sie für jeden sichtbar in seinem Wagen liegen, an dessen Windschutzscheibe ein Aufkleber eines Ärzteverbands prangt. Werktags geht er in den Wäldern seiner Kindheit spazieren, bei schlechtem Wetter kauft er sich Zeitschriften, die er in Cafés oder in seinem Auto auf Parkplätzen liest. Wenn seine Frau ihn auf Tagungen wähnt, mietet er sich in einem Flughafenhotel ein, studiert Reiseführer der Orte, an denen er angeblich ist. Familienurlaube bucht er im Reisebüro der WHO.
Am Vorabend der Tat, so glaubt es die Richterin, ist es jedoch zum Streit zwischen Romand und seiner Frau gekommen. Florence muss ihm Fragen gestellt haben.
„Warum dürfen wir nicht auf die WHO-Weihnachtsfeier kommen?“ – „Warum stehst du nicht im WHO-Telefonverzeichnis?“
Seine Frau habe nichts geahnt, es habe keinen Streit gegeben, sagt Romand im Prozess. Hätte seine Frau gezweifelt, hätte sie doch einfach bei der WHO angerufen.
„Und wer sagt, dass sie das nicht getan hat?“, fragt ihn die Richterin.

Corinne Hourtin, eine Kinderpsychologin und Ex-Frau eines Arztes aus Romands Nachbarschaft, wird von Romand samstagabends in ihrem Apartment in Paris besucht, ein paar Stunden zuvor hat er seine Familie umgebracht, einen Tag danach wird er sein Haus anzünden. Corinne ist die normalste Lüge Romands, eine Affäre.
Eigentlich findet Corinne ihn langweilig, lässt sich aber auf ihn ein, weil er sie mit Komplimenten überhäuft und sie in schicke Pariser Restaurants einlädt. Sie ahnt nicht, dass sie es selbst ist, die dafür bezahlt. Sie hat ihm 900 000 Francs anvertraut, die er als WHO-Mitarbeiter angeblich zu einem Zinssatz von 18 Prozent auf einem Schweizer Bankkonto angelegt hat. Dieses Konto ist Romands Zaubertrick, auch anderen gegenüber lässt er es in Gesprächen fallen. Er erhält so von seinen Eltern, seinem Onkel und seinen Schwiegereltern über zwei Millionen Francs. Als der Schwiegervater Teile seines Geldes zurückfordert, stürzt dieser kurz darauf von der Treppe seines Hauses und stirbt. Im Haus hält sich zu diesem Zeitpunkt lediglich ein Mensch auf: Jean-Claude Romand. Niemand hegt damals einen Mordverdacht, und Romand wird auch später nicht dafür an geklagt werden.
Als auch Corinne Hourtin ihr Geld verlangt, hält er sie wochenlang hin, denn: Seine Taschen sind leer. Sie einigt sich mit ihm schließlich doch auf ein Rückgabedatum: Samstag, 9. Januar 1993, der Tag der Tat. Damit setzt ihm Corinne, ohne dass sie es ahnt, den Termin für die Tragödie.
Als er am Abend des 9. Januar, er trägt Anzug und ein frisches Hemd, bei ihr ankommt, sagt Romand, er habe es nicht mehr auf die Bank geschafft. Corinne ist wütend, aber die Aussicht, einen angeblichen Freund Romands in seinem Landhaus kennenzulernen, Bernard Kouchner, Minister und Mitgründer von „Ärzte ohne Grenzen“, besänftigt sie.
Romand fährt mit ihr jedoch, immer neue Ausflüchte erfindend, ziellos durch die Gegend. Auf einem Waldweg stoppt er seinen BMW. Er wolle ihr eine Kette schenken, sagt er. Plötzlich sprüht er ihr Tränengas ins Gesicht und versetzt ihr mit einem Elektroschocker Stromstöße in den Unterleib. Sie schlägt um sich. Beide schreien sich an, aber nach einer Weile beruhigen sie sich. Romand wirkt wirr. Er behauptet, er habe geglaubt, sie wollte ihn angreifen. Corinne sagt, sie werde nur dann keinem Menschen von diesem Abend erzählen, wenn sie am Montag ihr Geld erhielte. Er stimmt zu und gibt sich erschüttert: Er sei einfach gerade sehr durcheinander. Corinne lässt sich von ihm sogar zurück nach Paris fahren. Aber etwas will ihr nicht aus dem Kopf gehen: Sie hat im Wagen keine Halskette gesehen, dafür jedoch ein Stück Nylonschnur. Wollte er sie damit erwürgen? Anzeige erstattet sie nicht, womöglich will sie erst die Geldübergabe am Montag abwarten. Da liegt Romand bereits im Koma. Er erwacht erst zwei Tage später daraus und wird bald darauf festgenommen.
Emmanuel Carrère, ein Autor aus Paris, hört in den Nachrichten von diesem Fall, ist schockiert und fasziniert gleichzeitig. Er sucht die Orte auf, an denen Romand seine Zeit verbrachte, Parkplätze, die Wälder seiner Kindheit, schreibt als Beobachter für den „Nouvel Observateur“ über den Prozess, nimmt Kontakt zu Romand auf, korrespondiert mit ihm, besucht ihn einmal in seiner Zelle. Im Jahr 2000 veröffentlicht er „Amok“, das Buch sorgt für Furore. Carrère kommt dem Irrsinn der Tat nahe, nicht aber dem Täter und seiner Motivation; im Kern des Werks steht vielmehr die Fassungslosigkeit des Autors. Dennoch entwickelt das Buch einen Sog. Anhand Carrères Werk ist nicht nur diese stern-Crime-Geschichte entstanden, sondern wurden ebenso Filme und Fernsehserien produziert. Auch der Fotograf Cédric Delsaux entschloss sich, knapp vier Jahre lang, von 2011 bis 2014, den Spuren Romands zu folgen: „Ich wollte Bilder finden, die meine Faszination für seine Geschichte widerspiegeln.“ Seine Fotografien seien wie eine Geisterjagd zu verstehen, sagt Delsaux. Es sind fiktive Szenarien. Sie zeigen nicht die Realität, sondern poetische, mystische Fragmente.
Ein künstlerischer Umgang, ein Spiel mit der Wahrheit, das auch Romand weiterhin betreibt, der dadurch längst selbst zu einer Art mystischer Figur geworden ist.
Im Gefängnis wendet sich Romand Gott zu, der ihm erschienen sei. Seit diesem „mystischen Ereignis“ glaubt er, Gott habe ihn aufgespart, als er nach dem Mord an seiner Familie Suizid begehen wollte. Es sei ein „Zeichen seiner göttlichen Gnade“ gewesen. So erzählt Romand es in dem Bibelkreis, der ihn aufgenommen hat. Von seiner Läuterung überzeugt, scharen sich nun Fundamentalchristen um ihn, die ihn verehren. Der Glaube an etwas Übersinnliches erklärt Romand seine Taten: Er ist kein Lügner, der seine Eltern, Frau und Kinder ermordete, weil er die Schmach des Scheiterns nicht ertrug, sondern ein Mensch, der sich Gottes Willen fügen musste.
„Der Schmerz darüber, meine ganze Familie und all meine Freunde verloren zu haben, ist so groß, dass ich mich fühle wie seelisch betäubt“, schreibt er Luc Ladmiral aus der Zelle.
Romand spricht über sich, als hätte nicht er, sondern ein anderer die Morde verübt. Dabei hat er sie nach anfänglichem Leugnen vor den Richtern gestanden, wobei er sagte, er erinnere sich weder an den Streit mit seiner Frau noch an den Ablauf der Taten. Er ist für sie zu lebenslänglich verurteilt worden. Die Gerichte könnten die Strafe seit 2015 auf Bewährung aussetzen. Romand, mittlerweile 63, hat aber bis heute keinen Antrag darauf gestellt. Vielleicht, weil außerhalb seiner Zelle die Wahrheit auf ihn wartet?
Im Dezember 2016 spricht ein ehemaliger Zellennachbar Romands mit einer französischen Reporterin. Romand sei ein sanfter, bescheidener Mann, sagt er ihr. Er leide unter der Tat und glaube, eine fremde Version seiner selbst habe sie begangen. Er sei, anders als andere Kindermörder, sehr beliebt unter den Häftlingen. Während der Hofgänge diagnostiziere Romand Krankheiten. Untersucht er seine Mitinsassen, stellt er sich immer auf Zehenspitzen, macht sich größer, als er ist. „Er ist ein altmodischer Arzt“, findet sein ehemaliger Zellennachbar. „Aber die Jungs mögen das.“ Sie nennen ihn „Doc“, sagt er, und sie trauen ihm.