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Warum die Protestsongs zurück sind – und ob der Song «Layla» dazugehört

Die Zeit des Protestsongs sei vorbei, hiess es lange. Er galt als verschnarcht und musikalisch langweilig. Jetzt ist der Lied gewordene Widerstand zurück. Was macht seine Kraft aus?

Protestsongs leben. Das zeigen gerade Teherans Strassen, sie sind dort immanenter Teil des Widerstands, der Revolution, schweissen zusammen. Über Social Media gelangen die Lieder auch zu uns.

Moment, bitte? Protestsongs? Die galten doch lange als verschnarcht, als uncool, als Relikte. Der Feuilletonist Jens Balzer schreibt in seinem Buch «Pop und Populismus», der gesellschaftlich engagierte Protestsong mit emanzipatorischer Botschaft sei die wahrscheinlich langweiligste Musik auf dieser Welt.

Doch war das je richtig? Testen Sie sich: An wen denken Sie beim Wort «Protestsong»? An Bob Dylan? Setzen Sie früher ein, bei Bertolt Brecht etwa? Franz Josef Degenhardt oder Joan Baez? Aretha Franklin? Oder am Ende gar einen der raren Schweizer Protestler, Mani «I han es Zündhölzli azündt» Matter? Staubig, was? Oder fiel Ihr erster Gedanke wirklich auf das Jetzt, den iranischen Sänger Shervin Hajipour oder eine der Sängerinnen von zwei kursierenden persischen Versionen von «Bella Ciao»? Vielleicht dachten Sie aber auch an eine der Künstlerinnen, die der «Black Lives Matter»-Bewegung ihre Stimme liehen?

Durch diesen Test drängen sich Fragen auf: Sind Protestsongs nie weg gewesen? War der Blick auf dieses Genre lange zu eurozentristisch? Zu wohlstandsverwahrlost, weil unsere jüngere Gesellschaft nie existenziell gefährdet war? Ist dieser Protestsound in Zeiten der Multi-Krisen daher aktueller denn je? Und was ist überhaupt ein Protestsong? Ist er zwingend links? Und falls nicht, ist sogar – danger! – «Layla» einer?

Der Mensch, der unbedingt zu diesem Thema zu konsultieren ist, hört auf den Namen Schorsch Kamerun. Ur-Punk, Goldene-Zitronen-Sänger, mittlerweile aber auch Teil des Establishments. Über Jahre inszenierte er in nahezu allen Zürcher Theaterhäusern, in Schauspielhäusern und Staatsopern in Wien, Stuttgart, München, Hamburg. Derzeit hält er sich am Theater in Bremen auf, Shakespeare, King Arthur.

2017 sagte er dem Autor dieses Artikels, der Protestsong habe sich erledigt, ausser man lebe in der Türkei, Russland oder China. Neben Kamerun sassen Grim104 und Testo, bekannt unter dem Namen Zugezogen Maskulin, zwei der wichtigsten, jungen Vertreter des deutschen Rap – wie Kamerun absolut gesellschaftskritisch. Ihr letztes Album hiess «10 Jahre Abfuck». Dennoch sagten auch sie: «Ich möchte keine Demo-Musik spielen.» Und Kamerun meinte: «Der Zeigefinger bringt es nicht.» Die Parole – aufgebraucht. Man einigte sich darauf, wenn schon Protest, dann uneindeutig, diskursiv. Und Musikjournalisten fragten, ob der Protestsong tot sei.

Heute hat sich durch die politische Unübersichtlichkeit etwas verändert. «Deshalb stehen Eindeutigkeiten, dumpfe wie scharfe, hoch im Kurs», sagt Kamerun. Und so kommt es, dass sogar Tocotronic, die deutsche Diskursband der vergangenen Jahrzehnte, nur knapp einen Monat vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine einen von Käthe Kollwitz beeinflussten Song namens «Nie wieder Krieg» veröffentlichte; der Pop und sein Gespür. «Der Protestsong wird gebraucht!», sagt Kamerun.

Es gebe gerade zwei Pole, klare Kante oder eine Art «Togetherness», die an die 1960er erinnere. Aber das Thema, das für Künstler und Künstlerinnen wie ihn derzeit am eindeutigsten beschreibbar sei, sei die ökologische Katastrophe. Sein Altpunk-Claim «No Future» sei im Kern ohnehin nichts anderes als das heutige «For Future» der Klimabewegung.

‹Der Protestsong wird gebraucht!›

Das ist das Stichwort, um in ein Forscherlabor an der TU Berlin zu zoomen, dort hält sich Thorsten Philipp auf, Politologe und Protestsong-Forscher, Schwerpunkt Klima und Nachhaltigkeit. Einen Protestsong definiere er sehr eng, er müsse intendiert und dezidiert in einen Konflikt eingebunden sein, die Urheber müssten sich positionieren, textlich oder durch eine Aufführungssituation, eine Demo etwa.

Schorsch Kamerun sagt, ein Protestsong brauche einen Anlass, etwas, an dem man sich reiben kann. Was ihn ausmacht, sei seine Gegenwärtigkeit. Ein Protestsong beschreibe immer eine spezifische Zeit. Eine «Züri brännt»-Doku ohne den gleichnamigen Song der Zürcher Punk-Band TNT ist unvorstellbar. «Züri brännt / die alti Wixerstadt / Züri brännt / vor Langwiil ab», heisst es dort.

Eingängigkeit schadet dem Protestsong ebenso wenig wie eine Masse, die als Resonanzkörper dient. 1980 fand diese sich vor dem Zürcher Opernhaus ein, angestachelt von einem alten Protestsong-Veteranen, Bob Marley. «Get up, Stand up!» spielte er als letzten Song im Hallenstadion. Tausende Konzertbesucher schlossen sich den rund 140 Menschen an, die bereits vor dem Opernhaus demonstrierten. Die Rote Fabrik wurde so letztlich ins Stadtbild zementiert, das Ende der ganz alten Schweiz eingeläutet.

«Es geht um Leben und Tod»

Auch Kamerun war Teil eines jüngeren Protestsongs, er hat zusammen mit Francesco Wilking, Bela B., Judith Holofernes und Rocko Schamoni und vielen anderen kurz vor der deutschen Bundestagswahl vergangenes Jahr einen beschwingten Song neu eingespielt, Rio Reisers «Wann, wenn nicht jetzt».

Man sieht im Video zum Song allerlei unaufgeräumte Studios, Keyboards in Wohnzimmern, Sängerinnen in Küchen, ganz klar zu spüren die «Togetherness». Die musikalischen Freunde wollten einen politischen Umbruch, der sich später sogar in einem Hashtag manifestierte #diesmalgrün.

Für diese Farbe brannte auch Shahrzad Osterer, Exil-Iranerin in München: die grüne Bewegung in Iran, die vom Regime 2009 furchtbar niedergeschlagen worden ist. Mittlerweile ist Osterer eine der lautesten Widerstandsstimmen: Sie ist Journalistin beim Bayerischen Rundfunk und auf dem Heimweg von einem Gespräch mit einer anderen der Farbe Grün verpflichteten Frau, der deutschen Aussenministerin Annalena Baerbock.

Baerbock lud Osterer ein, nicht sie sich. Osterer arbeitet bei dem seit seiner Gründung 1974 im Widerstand befindlichen BR-Magazin «Zündfunk», dessen Kernidentität der Sound of Protest ist. «Das Konzept von Coolness kommt nicht infrage, es geht um Leben und Tod», sagt Osterer, als sie auf Protestsongs angesprochen wird, und zerstört mit nur einem Satz den jahrzehntelangen Manierismus deutschsprachiger Musikjournalisten.

Zu Zeiten der grünen Bewegung, sagt sie, wurden auf Demos von Exil-Iranern noch Lieder aus Zeiten der Islamischen Revolution gespielt. «Diese wurden ersetzt.» Auch das zeige, die Menschen wollen keine Reformen, sondern einen Umsturz. «Bella Ciao», das italienische Partisanenlied in der persischen Version, stärke sie dabei; man fühle die Revolution. Anders verhalte es sich mit «Baraye» (Persisch: «Für . . .»).

Der Song bringe alles in ihr hoch, sagt Osterer, Trauer, Schmerz und Geschichten, die sie von sich selbst oder Freunden kennt. Eigentlich besteht der Song nur aus Tweets: «Für meine Schwester, deine Schwester, unsere Schwestern.» «Für das Mädchen, das sich wünschte, es wäre ein Junge.» Der Song wurde schnell aufgenommen. Schon die arabischen Proteste offenbarten, dass es nur eines dieser Wohnzimmerstudios und das Netz brauchte, und schon hatte der Widerstand eine neue Stimme, ohne Delay. In einem Land im Revolutionsmodus sind Protestsongs nahezu so wichtig wie offenes Internet. Shervin Hajipours Lied habe ins Schwarze getroffen. Das zeigte auch seine spätere Inhaftierung, sagt Osterer. «Diese Männer haben sogar vor einem Lied Angst.»

Ist «Layla» ein Protestsong?

Es gibt auch ein neueres deutsches Lied, das nicht wenige als Protestsong empfinden. Es heisst «Layla». Mit ihm machen Menschen ihrem Ärger über die von ihnen als penetrant empfundene Wokeness Luft. Treffen nicht viele der definierten Protestsong-Kriterien auch auf dieses Lied zu? Alle Beteiligten ringen bei der Frage um Fassung, sind sich aber einig, ein Protestsong sei es nicht. «Protestsongs müssen uns weiterbringen, progressiv sein, sonst sind sie keine», sagt Kamerun.

‹Protestsongs müssen uns weiterbringen, progressiv sein, sonst sind sie keine.›
Der Protestforscher Philipp weist auf seine enge Definition des Protestsongs hin: Der Urheber müsse sich in einem Konflikt positionieren. Ikke Hüftgold, der Produzent des Songs, hat das bereits getan. In einem Interview sagte er, «Layla» sei ein Befreiungsschlag gegen #MeToo-Debatten und das Gendern, «ein Symbol der Freiheit», sogar eine Petition #freelayla startete er und rückte in einem Gastbeitrag die Debatte um den Song in die Nähe staatlicher Zensur in Diktaturen. Die Iranerin Osterer erwidert: «Das ist zynisch und verachtend. Uns geht es hier zu gut. Ich hoffe, keine iranische Frau, die gerade auf der Strasse um ihr Leben kämpft, bekommt von dieser Debatte jemals etwas mit.»