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Vier Saiten Hölle, Vier Saiten Himmel

Unser Autor wollte auch einmal ein Instrument lernen. Mit null musikalischem Talent gesegnet, entschied er sich für die Ukulele, die als supereinfach gilt, und reiste nach Hawaii. Es veränderte sein Leben

Was ich lange verhindern wollte, wird gleich beginnen: ein Konzert. Und ich auf der Bühne, singend und ein Instrument spielend, über mir die Scheinwerfer, alle Augen auf mich gerichtet. Noch bin ich in einem Backstage-Raum und habe alle hinausgebeten. Endlich Ruhe. Ich trage ein buntes Hawaiihemd und lausche, was vor dem Vorhang auf der Bühne passiert. Die Band beginnt zu spielen. Zarte, feingliedrige Töne. Nachher wird sie an meiner Seite stehen. Ich sehe auf mein Instrument hinunter, streichle es. Das Holz gibt mir ein ruhiges Gefühl.

Wie bin ich nur hier hineingeraten? Ich, der unmusikalischste Mann der Welt. Meine musikalische Grundbildung ist in einem Satz erklärt: Es gibt keine. Ein Instrument habe ich nie gelernt. Doch Jahre später begann mich ein Instrument zu verfolgen.

Im englischen «Guardian» schreibt ein Autor, er habe die musikalische Fähigkeit eines Rettichs, aber die Ukulele beherrsche er mühelos. Die «New York Times» recherchierte, dass die Ukulele-Basics innerhalb eines Tages zu erlernen seien und dass es «fast unmöglich ist, sie schlecht zu spielen». Könnte ich doch noch ein Instrument lernen?

Die Ukulele hat nicht die bildungsbürger­liche Schwere eines Klaviers oder den vor Tes­tosteron triefenden Gestus der Gitarre. Sie ist zierlich und verspielt. Viele Künstler, die ich bewundere, haben Ukulele-Songs im Repertoire: Beirut, CocoRosie, Devendra Banhart. Auch Schwergewichte wie Paul McCartney und Eddie Vedder spielen sie.

Nach und nach schleicht sich ein Gedanke in mein Hirn. Ich möchte Ukulele lernen, auf Hawaii. Dort wurde das Instrument erfunden. Allerdings schickt mich die Redaktion nur unter einer Bedingung auf die Reise: «Du musst nach deiner Rückkehr einen Song auf einer Bühne spielen.» – «Ja», höre ich mich antworten.

Woran ich nicht denke, ist mein Tick. Ich bin scheu, auf viele wirke ich unnahbar wie ein Eisbär. Ich kann auch manchmal nicht in einem Restaurant mit zu vielen Gästen sitzen. Jeder re­det, es klappert und knistert. Zu viel Interaktion um mich herum führt zu zu viel Aktion in mir.

Ich überlege, die Reise abzusagen. Doch Hawaii wirkt mit seinem Aloha wie ein Magnet. Wenige Wochen später lande ich in Honolulu, die Insel Oahu umarmt mich mit feuchten 28 Grad. Es riecht nach Oleander, Frangipani und French Fries.

Um zwölf Uhr mittags des nächsten Tages sitze ich in einem Bürogebäude vor einem lächelnden Herrn in einem schwarz-gelben Hawaiihemd: Roy Sakuma. Ein Mann Anfang siebzig, dessen Stimme klingt, als trage sie alles Glück der Welt in sich.

Roy Sakuma ist der prominenteste Ukulelelehrer der hawaiianischen Inseln und damit weltweit. Schon 1971 gründete er das grösste Ukulele-Festival der Welt, seit mehr als 50 Jahren unterrichtet er; vor gut zehn Jahren kam er bereits auf 15 000 Schüler, unter ihnen auch der berühmte Ukulelespieler Jake Shimabukuro.

Mir ist es peinlich, dass Roy mir erst die profanen Dinge zeigen muss, etwa wie ich die Ukulele halte. Ich merke, dass ich das Instrument wie ein Schraubstock umklammere, und lockere den Griff. Er zeigt mir, wohin ich meine Finger legen soll, ich schlage an. Vier knarzi­ge Töne verlassen das Instrument in meinen Händen. «Gratuliere, Marco, du hast deinen ersten Akkord gespielt, das C», sagt Roy zu mir und strahlt, als hätte ich gerade den Grammy gewonnen.

In den Minuten darauf bringt er mir weitere Akkorde bei, das a-Moll, das F und das G7. «Relax, Marco, relax», sagt er immer wieder. Beim G7 kommt ein sympathisch heller Ton heraus. Zu meiner Überraschung klingt er nach dem vertrauten Sound Hawaiis. Die vier Akkorde solle ich nun üben. Mein Hirn ver­sucht meinen Fingern zu befehlen, sich punkt­ge­nau auf dem Bund zu bewegen. Hat es in all den Jahren noch nie gemacht.

oy bemerkt meinen Missmut. «Du kannst nicht alles in der ersten Stunde lernen, Marco», sagt er. Er habe blinden Kindern, solchen mit Down-Syndrom, sogar einarmigen Kindern das Ukulelespielen beigebracht. Ich fühle mich gut in diese Reihung eingeordnet. Dann sagt Roy, er selbst sei häufig am Instrument gescheitert. Mit 12 versuchte er es erstmals zu lernen, mit 14 wieder. Es sei ihm schwergefallen, weil er nie Radio gehört und keine Ahnung von Beat und Rhythmus gehabt habe.

Doch mit 16 habe er einen Song gehört, der alles änderte, «Sushi», 1964 Nummer eins der Hawaii-Charts. Roy liebte ihn und entdeckte eine Anzeige: «Lerne Ukulele spielen – von Ohta-San», dem Inter­preten des Songs. 18 Monate lernte er bei ihm. Mit 19 übernahm er dessen Ukuleleschule.

«Im Gegensatz zu mir damals hast du Rhythmus, Marco», sagt Roy. Ich fürchte, er will nur nett zu seinem Gast aus Europa sein. Ich frage ihn, was er ohne Ukulele in seinem Leben wäre? «Ohne die Ukulele», sagt er, «wäre es nicht das, was man ein gutes Leben nennen würde.» Er erzähle mir morgen mehr.

Ich hatte mir zuvor ausgemalt, wie mein Aufenthalt ablaufen würde: bisschen üben, baden, surfen gehen. Ich weiss nun, es wird harte Arbeit. Ich versuche, möglichst leise auf meiner Hotelterrasse zu üben, nicht auf mich aufmerksam zu machen. Es gibt Menschen, die wollen genau das. Zu denen gehöre ich nicht. Wie soll ich nur auf einer Bühne einen Song vortragen?

Aber ich bemerke auch, dass mich die Ukulele öffnet. Draussen zu sitzen, ist ein erster Schritt. Ausserdem überlege ich, mir ein Hawaiihemd zu kaufen. Gewöhnlich trage ich nur weisse Shirts.
Nächster Tag, die Wände in Roys Studio sind voller Andenken: selbst gemalte Bilder kleiner Schülerinnen, Zeitungsausschnitte, Plakate der Festivals, Roy mit Israel Ka’ano’i Kamakawiwo’ole, genannt Iz. Der rund 350 Kilo schwere Koloss, der mit seinem Song «Over the Rainbow/What a Wonderful World» dafür sorgte, dass die Ukulele im Kanon der Pop-Kultur landete.

Auch Gi­­tarrenhersteller schlagen sich (dank Corona) recht gut durch, doch der Ukuleleverkauf boomt. Verantwortlich dafür: Hipster aus Zürich, Seattle, Tokio. Auch Schweizer Musikschulen setzen statt auf Block­flöte immer öfter auf die Ukulele.

Roy rät mir, die Akkorde ohne Pause zu spielen. «Warte nicht auf die linke Hand, schlage mit der rechten Hand einfach weiter, die andere wird ihr folgen.» Klingt magisch, bei mir klappt das auch Tage später nicht.

Gegen Ende der Stunde nehmen wir die Unterhaltung von gestern auf. Roy erzählt, dass bei seiner Mutter wie seinem Bruder Schizophrenie diagnostiziert wurde, beide redeten mit sich selbst. Roys Vater wurde Alkoholiker. Roys Bruder versuchte Roy umzubringen, dann beging er Suizid. «Ich hatte keine gewöhnliche Kindheit und deswegen Ängste entwickelt.»

Roy glaubte lange, dass er selbst auch erkranken werde. «Ich bin für zwei Dinge in meinem Leben dankbar», sagt Roy, «meine Frau und meine Ukulele.» Beide hätten sein Leben gerettet. 1971, kurz bevor er seine Frau traf, dachte er an Suizid. Dann nahm er, 23, seine Ukulele und sang Zeilen, die plötzlich aus ihm kamen:

I am what I am
I’ll be what I’ll be
Look, can’t you see
That it’s me.

«Die Ukulele gab mir ein Ventil, um zu über­leben», sagt Roy. Auch weil seine Freunde Probleme mit dem Gesetz bekamen, Drogen nahmen, starben, während er zu Hause blieb und an seiner Ukulele zupfte. Roy hält auch Vorträge vor Schülern, Drogenabhängigen und dem FBI.

Aus diesem kleinen Mann strömt jede Menge Kraft. «Ich will den Menschen zeigen, dass die Ukulele auch ein Heil-Instrument ist.» Demenzpatienten besucht er auf Krankenstationen und spielt ihnen Songs ihrer Kindheit vor, sie erinnerten sich plötzlich an sie, sagt er. Krebskranken Kindern helfe das Instrument bei der Therapie. «Wenn sie die Ukulele spielen, entspannt es ihren Geist.» Autisten, mit denen er spielt, umarmen ihn, öffnen sich.

Ich sehe seinen Punkt, mir ist es aber zu viel in das Holzding hineininterpretiert. Manchmal haben die Stunden mit Roy etwas von einer Therapie. Sie lassen mich über mich und meinen Tick nachdenken. Eine vermeintlich lockere Recherche auf Hawaii wird schwerer.

Sonntag, die letzte Stunde nach sechs intensiven Tagen. «Was kann ich tun, um weiter zu lernen?», frage ich Roy. «Mach dich mit den Akkorden vertraut.» Ich erzähle ihm nicht, dass ich ver­mute, an meiner Recherche zu scheitern. Ich kom­me nicht über wacklige Song-Anfänge hinaus. Mitten auf einer Trauminsel bin ich gestresst, trotz Hawaii, trotz 26 Grad Wassertemperatur. Vier Saiten Hölle.

Ich fahre an Ananasfarmen vorbei in den Norden, nach Haleiwa, ein Zentrum für Surfer, und miete mich in ein Häuschen ein. Jeden zweiten Tag besucht mich mein zweiter Lehrer: Aaron Crowell. Er bietet seine Dienste auch über das Internet an, 60 Minuten kosten 60 Dollar, die Hawaii Music School.

Aaron schaut aus, wie ich mir meinen Ukulelelehrer in meinen Klischees vor­stelle, Südsee-Gesicht, er sagt «Aloha» zur Begrüssung. Wir setzen uns in meinen Garten. Ich spiele ihm vier wacklige Akkorde vor. «Not bad», sagt er – und dann, der zentrale Punkt seines Unterrichts sei Rhythmus. Dafür sei die rechte Hand zuständig. «Sie ist am wichtigsten, deine Sprache, Mann!»

Wir sehen uns ein Lied im Netz an, «Over the Rainbow» von Iz. Nun solle ich den gleichen Beat mit der Hand auf der Ukulele schlagen. Ich erlahme, frage ihn. «Ich habe ein Rhythmusproblem, oder?»
«Wenn du ein Problem hast, dann mit deinem Zögern», antwortet er; und es wirkt, als kenne mich Aaron ein ganzes Leben. «Don’t stop, egal ob du es versaust. Das ist der Grund, warum wir üben.» Am Ende der Stunde rät Aaron mir: «Try to find your beat, wir sehen uns in drei Tagen.»

Ich verbringe die Zeit mit Baden und Einüben von Iz’ Song. Einmal fahre ich in den Osten der Insel. Dort wuchsen Aaron und Iz auf. Noch heute leben hier viele Nachfahren der Polynesier, was die beiden auch sind. Iz ist 1959 geboren, in dem Jahr, als Hawaii zum 50. Gliedstaat der USA wurde. Dass dieser Schritt nicht jedem Hawaiianer guttat, ist auf der Fahrt zu sehen. Nirgends gibt es mehr Arbeitslose auf Hawaii als im Westen Oahus. Ich sehe Obdachlose am Strassenrand, geplünderte Autos, verlotterte Zeltstädte.

20 Minuten später stehe ich am spektakulär langen und einsamen Mākua Beach. Der Strand war der Ort der Trauerfeier für Iz. Zehntausende Hawaiianer weinten und lachten, Trucks hupten, angeblich hing ein weisser Regenbogen über der Insel.

Mir misslingt seit Tagen der Akkordwechsel von E7 auf a-Moll. Ich bin daher froh, quer über Oahu nach Honolulu fahren zu dürfen. Hinter einem alten Ladentisch begrüsst mich Frederick Kamaka Senior, 94 Jahre alt, der zusammen mit seinem Bruder Samuel Kamaka Junior, 96, die Geschicke der bekanntesten Ukulele-Fabrik der Welt leitet.

Der Vater der Brüder Kamaka war einst Lehrling des portugiesischen Einwanderers Manuel Nunes. Nunes, ein Möbeltischler, kam 1879 auf einem Mehrmaster aus Europa an. Im Bauch des Schiffes waren portugiesische Instrumente. Nunes entwickelte daraus die Ukulele.

Jeden Morgen um halb elf erzählt Frederick Kamaka Senior mit brüchiger Stimme von den Anfängen des Instruments. Sein Bruder und er bekamen 1953 vom Vater nicht nur die Firma, sondern auch einen Auftrag übergeben: «Ruiniert nicht den Namen dieser Familie, indem ihr Schrott herstellt.» Ein Satz, der gilt.

Jede Kamaka ist aus hawaiianischem Koa-Holz, das für die braune Maserung, die perfekte Dichte, den hellen Sound sorgt. 1916 ging eine Kamaka für fünf Dollar über die Ladentheke, heute kosten sie ab 1000 Dollar aufwärts. «Die Ukulele sorgte auch in harten Zeiten für Essen auf unserem Tisch», sagt Freds Neffe Chris, der jedes einzelne Instrument prüft und anspielt. Es verlässt erst die Werkstatt, wenn Chris sagt: «Das ist eine Kamaka.»

Plötzlich befiehlt die auch anwesende 85-jährige Frau von Fred, Elisabeth, eine adrette Dame, früher Pan-Am-Stewardess, ihrem Mann eher, als dass sie ihn bittet: «Sing mir unser Lied!» Einen Mo­ment später trägt der 94-Jährige ihr ein bezau­bernd schüchternes Ständchen vor:

You’re as lovely as you can be
My yellow ginger lei.

Am Tag darauf treffe ich Aaron in einem Ukulele-Geschäft. Ich war mit dem Gedanken nach Hawaii gekommen, mir eine Kamaka zu kaufen. Allerdings fürchte ich, ihrer nicht würdig zu werden. Eine Kamaka spielten Elvis und Iz. John Lennon komponierte seine Beatles-Songs auf ihr. Bisher spielte ich auf einem Leihinstrument, Aaron empfiehlt mir eine Ukulele aus Zedernholz, Mahagoni und Walnuss für 300 Dollar. Ich kaufe sie.

Im Hinterhof gibt mir Aaron eine weitere Stunde. Spielt Aaron Iz’ Song, singt er stets mit. Erst jetzt wird mir klar: Die Ukulele ist ein Begleitinstrument. «Du solltest dazu singen», sagt mir Aaron. Mein Hirn hat schon Schwierigkeiten, meine Finger zu instruieren. Nun soll es noch meinen Mund anweisen. Wie soll das gehen? «Fahr ans Meer», rät mir Aaron gegen meine Frustration.

Wenig später schwimme ich mit Schildkröten.

Am Morgen darauf habe ich eine Verabredung mit Tiara Hernandez, der Schwester des Sängers Bruno Mars, die Kindern auf Hawaii Ukuleleunterricht gibt.

Tiara übt mit mir vier Akkorde; G ist neu für mich. Tiara sagt, fast alle Oldies würden mit diesen Akkorden gespielt. Es dauert 30 Minuten, bis ich die Abfolge brüchig hinbekomme, dazu singt Tiara Oldies, «My angel baby, ooooh, I love you». Ich vermurkse nicht nur vor lauter Schmetterlingen jeden Akkord.

Ich solle lauter spielen, sagt sie. Mir falle das schwer, antworte ich, es könnte mich ja jemand hören. «Da musst du durch, gerade wenn du auftreten möchtest», sagt sie. Als sie anfing, riet ihr ein Gitarrist: «Wenn du übst, musst du es laut tun.» Sie erwiderte: «Ich möchte nicht, dass jemand meine Fehler hört.» Und dass sie schüchtern sei. Tiara machte deswegen auch als Einzige in der Familie lange keine Musik.

«Wann hast du erstmals Ukulele gespielt?», frage ich sie. Tiara antwortet zuerst nicht, dann sagt sie mit Tränen in den Augen: «Nachdem meine Mutter gestorben ist.» Ihre Mutter war eine ehemalige Hula-Tänzerin, ihr Vater ver­anstaltete Musikshows, in denen er selbst, aber auch Tiaras Bruder Peter alias Bruno Mars auf­traten. Zu Hause lief daher immer Rock ’n’ Roll aus den 1950ern, die Songs, die Tiara mir beizubringen versucht.

Erst 2013, ihre Mutter starb überraschend, setzte sie sich mit der Musik ihrer Familie auseinander. «Ich nahm die Gitarre meiner Mutter, sperrte mich monatelang in einen Raum ein und brachte mir die Songs meiner Kindheit bei. Es war wie eine Therapie und mein Weg, nach wie vor mit meiner Mutter zu sprechen.» Vor zwei Jahren fragten ihre Neffen, ob sie ihnen Ukulele beibringen könne. «Meine Rolle ist es nun, ihre Tante und Grossmutter zugleich zu sein.» Die Ukulele sei ihre Verbindung zu ihnen.

Roy glaubt, nur durch die Ukulele ein gutes Leben zu führen. Frederick Kamaka Senior eroberte mit ihr seine Frau. Tiara entdeckte eine Aufgabe in der Rolle der Ukulele spielenden Grossmutter-Tante. Aaron, mein derzeitiger Musiklehrer, führt ein internationales Ukulele-­Startup und ernährt seine Frau und seine neun Hunde, hat sich aus einer schwierigen Kindheit in der ärmsten Gegend Hawaiis herausgearbeitet und ist heute ein zufriedener Mensch. Die Ukulele als Gamechanger? Vier Saiten Himmel?

«Jeez, you got it», sagt Aaron in unserer letzten Stunde. Aber er habe über mich nachgedacht: «Du bist es nicht gewohnt, Fehler zu machen.» Er hat recht, ich versuche wie Tiara Fehler zu ver­meiden und lasse lieber von Vorhaben ab. Ich weiss nun, um die Ukulele zu spielen, muss ich lernen, Fehler zuzulassen.

Ein paar Tage später kurve ich über Kauai, die Garteninsel, alles ist grüner, es riecht nach Zimt und Chili, Quellwasser rieselt die Hänge hinab, Regenbögen. Eigentlich stünden nun Ferien an.

Doch ich arbeite weiter an meinen Ukulele-Skills – mit Matt Morelock. Er lebt auf vier Hek­taren Boden, Haus mit Blick aufs Meer, sein direkter Nachbar: Mark Zuckerberg. Matt ist ein Mann mit einem dicken Bauch, einem wallenden Bart, einem Jeans-Overall und einem lauten Lachen. «I’m a hillbilly», sagt Matt und guckt mich mit seinen Knopfaugen an.

Wir gehen in seine Werkstatt. Er – Musikethnologe – repariert auf Hawaii alte Ukulelen und feilt nun am Steg meines Instruments.

«Diese Korrektur braucht jede Ukulele dieses Herstellers», sagt er. Zudem meint Matt, dass Iz’ Song auch für Profis schwierig sei, weil er nicht perfekt sei. Iz hatte den Song Ende der 1980er Jahre nachts um drei Uhr aufgenommen, Akkorde verrutschten, er nuschelte. Daraufhin schlägt Matt «Stand by Me» von Ben E. King vor, ähnliche Akkorde, nur einfacher.

Mein letzter hawaiianischer Abend, wir sitzen in Matts Garten, das Meer rauscht, wir trinken Bier. Irgendwann sagt Matt: «Du musst mir ein Abschiedsständchen spielen.» – «Stand by Me». Matt singt dazu, danach sagt er zu mir: «Du hast es! Musiker sind nicht smarter als du, Marco. Ihre Finger nicht besser als deine. Sie haben nur meist schon als Kind angefangen. Und irgendwann sind ihnen diese simplen Muster aufgefallen, in jedem verfluchten Song. Wenn du diese Muster siehst, wird es einfach.»

Ein halbes Jahr später ein Anruf, die Redaktion will mich endlich auf der Bühne sehen.

Ich bilde eine Art Task-Force, maile Matt an und spreche mit einem entfernten Bekannten, der mit seiner Ukulele über Bühnen tingelt. Er sagt mir: «Du brauchst einen nüchternen Musiklehrer.» Ich entdecke eine Annonce: Ukulele-Unterricht. Ein dünner Mann mit einer grünen Ukulele ist abgebildet. «Ich würde dir abraten. Ich glaube, das wird nicht schön für dich», sagt er mir am Telefon. Ich überrede ihn, mir zu helfen.

Da nun alles schnell gehen muss, brauche ich einen geeigneten Song, einen deutschspra­chigen Song mit wenigen Akkorden. Dann fällt mir einer ein; ein Mix aus New Wave und Post-­Punk: «Eisbär» der Schweizer Band Grauzone. Mir gefällt der Song, weil seine Kälte und Nüchternheit auf die Wärme und Leichtigkeit der Ukulele treffen.

Elemente zusammenkommen, die nicht zusammengehören: Nordeuropa und Hawaii, Ich und Über-Ich, Distanz und Nähe. Etwas, mit dem ich auch immer wieder kämpfe.

Rund eine Woche später sitze ich im Zimmer meines Musiklehrers, er trägt Schlappen. Sein Zimmer ist Schlafplatz und Tonstudio zugleich. Unser Vier-Wochen-Projekt beginnt.

Woche eins: Er zeigt mir die Akkorde des Songs, A, B7, f-Moll. Nur drei! Die monotone Art des Songs passt zu meinem kühlen Beat. Zwischen den Wochen habe ich immer eine Woche Zeit, das Gezeigte einzuüben.

Woche zwei: Ich kann die Abfolge flüssig, mein Musiklehrer ist genauso überrascht wie ich. Nun geht es darum, gleichzeitig zu singen und zu spielen. Mein Hirn fährt Achterbahn, Befehle an die Finger gehen an den Mund, die an den Mund an die Finger, oder mein Auge zuckt. TILT!

Dritte Woche: Ich habe Schwielen an den Händen. Als ich dem Musiklehrer den Song erst­mals ganz vorspiele und singe, sagt er: «Ja, Alter!»

In der vierten Woche arbeite ich nur noch daran, die richtige Geschwindigkeit zu finden.

München, zwei Wochen später: Backstage-Raum, im Konzertraum 100 Leute. Ich bin in der Stadt, weil hier die Band Coconami auftritt, über die die «New York Times» schrieb: «The Ukulele is back.» Sie besteht aus der Japanerin Nami und dem Japaner Miyaji. Als würde sich alles fügen, erzählt Nami mir, sie sei Musiktherapeutin. Ich spreche mit ihr über meinen Tick, meine Furcht vor Menschen in gewissen Situationen.

In den Monaten, in denen ich mich mit der Ukulele beschäftigte, habe ich auch an mir eine Veränderung festgestellt. Ich habe keine Scheu mehr vor der Bühne. Als wäre mein Hirn neu programmiert. Neurologen haben herausgefunden, dass sich beim Musizieren Gehirne verändern, Nervenzellen sich neu verschalten.

Matt hatte recht, Musiker sind nicht mit anderen Gehirnen zur Welt gekommen. Es ist der Sound, der sie verändert. Beim Spielen eines Instruments werden Glückshormone freigesetzt.

Glücklich also. Ich muss im Backstage-Raum an eine Szene ein paar Monate zuvor denken: Ich sass vor der Hawaiireise erstmals bei einer Therapeutin, fühlte mich schlapp, vermutete ein Burnout. Sie riet mir für den schnellen Effekt zu Psychopharmaka. Ich glaube eher an die nachhaltige Kraft von Gesprächen als an Pillen. Ich liess das Medikament sein. Ich erzählte der Therapeutin auch von meinem Tick. Sie vermutete eine Angststörung. Gut behandelbar. «Am besten in einer Gruppentherapie», sagte sie. Ich fand das naheliegend wie irritierend: Ich habe ab und an Angst vor Menschengruppen und kläre das mithilfe einer Menschengruppe, Konfrontationstherapie.

Ich trete auf die Bühne, mir ist heiss, die Auf­regung, die Scheinwerfer, ein Mikro. Ich trage einen Pulli und darunter ein Hawaiihemd. Nami nimmt ihre Ocean-Drum, ein Instrument, das Meeresrauschen vorgaukelt. Nach einer halben Minute setze ich mit der Ukulele ein. Die Leute bemerke ich nicht, nach 20 Sekunden beginne ich zu singen:

Eisbär / Eisbär
Kaltes Eis / Kaltes Eis / Eisbär / Eisbär / Oh Eisbär.

Schon beim ersten «Eisbär» lacht eine Frau. Ich verspiele mich, auch weil meine Ukulele an meinem Pulli abrutscht, den ich vorher doch nie anhatte. Ich spiele trotz Fehler weiter.

Ich möchte ein Eisbär sein
Im kalten Polar
Dann müsste ich nicht mehr schrein
Alles wär so klar.

Nami zupft rechts neben mir an ihrem Instrument, Miyaji steht mit seiner Ukulele an meiner linken Seite. Sie geben mir Sicherheit. Gegen Ende geniesse ich sogar den Moment.

Eisbären müssen nie weinen.

Das Publikum klatscht. Einer meiner besten Freun­de filmte die Szene, während der Aufnahme flüsterten er und eine Freundin sich zu: «Klingt ein bisschen wie die frühen Tocotronic.» Coconami fragen mich, ob ich beim Hamburger Konzert mit ihnen den Song spielen möchte. «Gerne», höre ich mich sagen. Seit diesem Moment weiss ich: Musik habe ich immer vermisst.

Als ich wieder im Backstage-Raum sitze, muss ich an die Menschen denken, die mir bis zum Auftritt geholfen haben. Für alle von ihnen war die Ukulele eine Therapie. Ihre Sätze ergeben nun Sinn für mich.

Vor einiger Zeit litt ich, flüchtete nach Hawaii, lernte ein Instrument erst fürchten und dann schätzen. Durch meinen Auftritt habe ich mich einer Angst gestellt und etwas erarbeitet, was mir bis dahin unmöglich erschien. Heute spüre ich mehr Ruhe, mehr Aloha in mir. Zudem kann ich sogar ein wenig Ukulele spielen.

Später schicke ich Matt das Video meines Auftritts. Er antwortet: Meine Version gefalle ihm besser als das Original. Den «Eisbär»-Song im Ohr, denke ich: Alles ist so klar. Die Ukulele hat mein Leben verändert.

***

Marco Maurers grösster Wunsch ist es, sich mit Martin Eicher, Ur-«Eisbär», Grauzone-Sänger und Bruder von Stephan Eicher, zu unterhalten. Falls dieser das liest: kontaktATmarcomaurer.de

Das Hörfunk-Feature dazu erschien beim Bayerischen Rundfunk, auf Bayern 2, dem Zündfunk (Moderation Oliver Buschek, Regie und Produktion: Rainer Schaller, Reporter und Studiogast Marco Maurer):
Das Ding mit dem Swing Wie ich auf Hawaii lernte, die Ukulele zu spielen