Logo - Marco Maurer Journalist


Italien, wie früher

In einem alten Fiat von Sizilien gen Norden – der schönste Weg, um dieses Land kennenzulernen

Ein Kindheitstraum

An dem Berg, an dem ich aufwuchs, dem Geistberg, gab es einen dicken Mann. Wir Kinder – es waren die 1980er und 90er, die Anfänge von Nintendos „Super Mario“ – nannten ihn Luigi. Luigi bekam den Namen verpasst, weil er jeden Tag auf dem Geistberg an uns vorbeifuhr: Der Mann war dick, das Auto klitzeklein, ein seltsames Gespann. „Vorsicht, Luigi kommt“, riefen wir, wenn er sich näherte. Am Abendbrottisch erfuhren wir, das Auto sei ein Fiat 500, für damalige Verhältnisse ein ungewöhnlicher Wagen. Zu dieser Zeit – die Fußball-WM 1990 in Italien hallte kräftig nach – entstand der Wunsch, irgendwann mit so einem Fiat durch ganz Italien zu fahren. Rund 30 Jahre später war es so weit: Ich stand in Messina, in einem Leben vor Corona, um mit Daniel, einem Freund, von dieser reichen sizilianischen Hafenstadt bis nach Hamburg, nach Hause, zu fahren. Dass aus knapp 2400 Kilometern am Ende über 7000 Kilometer werden würden, ahnten wir nicht.

Alte Liebe rostet doch

Den Fiat, Baujahr 1968, hatte ich bei Signor De Pasquale gekauft, der wie die abgespeckte italienische Version des Luigi vom Geistberg aussah. Er hatte auf Subito inseriert, dem Ebay-Kleinanzeigen-Portal Italiens. Eigentlich ist Signor De Pasquale einer der letzten Stoffhändler für Herrenanzüge aus Messina: ein sympathischer wie knarziger Typ, bisschen harte Schale, weichster Kern. Auf der Probefahrt zog Messina an uns vorbei wie die Jahrhunderte. Wir fuhren an der Hafenpromenade entlang, an Frachtschiffen, dem wiederaufgebauten Dom, an brutalistischen Bauten, Kreuzfahrtschiffen. Eigentlich wollte ich das Auto prüfen, doch der Wagen und der sizilianische Straßenverkehr prüften mich. „Attenzione, Marco“, schrie Signor De Pasquale immer wieder. Der Fiat war ihm ans Herz gewachsen. Als junger Mann waren er und seine Freunde damit zum Tanzen, zum Strand, zum Fußball gefahren, später reisten er und seine Frau damit in die Abruzzen zum Skifahren, nach Kalabrien an den Strand. Wollmützen und Badetücher, die Kinder, l’amore, all das war immer da, wenn er in seinen Cinquecento stieg. „Fare al giorno 120 km, dopo 600 km controllare olio“, schrieb er mir zum Abschied in Großbuchstaben auf einen Zettel – maximal 120 Kilometer am Tag zurücklegen, alle 600 Kilometer den Ölstand kontrollieren. Autobahnen sollte ich meiden. Und ich dürfe „sie“ nicht in den Regen stellen. Das Auto wäre wie eine 100-jährige Großmutter zu behandeln, una nonna. Man müsse ihre Gesellschaft schätzen, ihre Eigenheiten respektieren, sie achten. Ich versprach, mich daran zu halten. Dann fuhren Daniel und ich los.

Giro d’Italia, aber anders

Über Italien heißt es oft, alle Wege würden nach Rom führen, tatsächlich führen sie in diesem immer noch stark von Landwirtschaft geprägten Land aber entweder auf einen Acker oder eben, natu-ralmente, ans Meer. Wir kreuzten die Straße von Messina, diese stürmische Meeresenge zwischen zwei Steilküsten. Unser erster Halt sollte Kalabrien sein: Vaccarizzo Albanese. Wie der Name des kleinen Dorfs verrät, wurde es von albanischen Einwanderern gegründet, den Arbëresh. Über 500 Jahre ist das her. Eine der Familien aus dem Dorf – die Librandis – stellt das beste Olivenöl Italiens her. Seit Jahrzehnten führt es fast alle Olivenöl-Bestenlisten del mondo an. Schon die Großeltern bewirtschafteten die Ölmühle, die damals mitten im Dorfzentrum lag. Dort im Zentrum werden bis heute Feste gefeiert wie damals, die Tarantella getanzt. Behaarte Männerarme klatschen rhythmisch, immer schneller und schneller. Akkordeons, oszillierende Röcke, Blicke, Schatten, Schweiß, Glanz, Tabak. Ganz anders die beschauliche Amalfiküste, die wir uns ein paar Tage später entlangschieben. Im winzigen Fiat zwischen Himmel, Meer und Erde. Haarscharf neben der Straße fallen die Klippen auf dem rund 50 Kilometer langen Abschnitt hinab in die kobaltblaue gischtende See. Über dem Meer liegt Minori, weniger bekannt als Sorrent, Positano, Amalfi. Hier erholen wir uns in der „Villa Maria“. Das Agriturismo liegt in einem Limonenhain mit Panoramablick auf das Tyrrhenische Meer. Später zeigen uns die Gastgeber Vincenzo und Maria, wie man eines der ältesten Pastagerichte Italiens kocht: Ndunderi – Ricotta-Gnocchi in einem Sugo aus Amalfi-Zitronen, Butter und Sahne.

Menschen mit ganz viel amore wie Maria und Vincenzo treffen wir während unserer Reise überall, auf dem Land und in der Stadt, in Neapel, Rom, Bologna, an der ligurischen Cinque Terre, in Turin und auf der Höhe von Bergamo. Oft sind es zufällige Begegnungen, die sich ergeben, weil wir wie 1968 unterwegs sind, mit weniger als 15 PS unter der Motorhaube stabil über Landstraßen. Wir klettern Berge hoch, die Abruzzen, den Apennin, später: die Alpen.

Von Katastrophen …

Bei einem über 50 Jahre alten Auto kann man kein perfekt funktionierendes Gefährt erwarten. Natürlich gab es Zwischenfälle und Dinge, die wir erst im Verlauf der Reise „erfahren“ haben. Etwa dass alte Cinquecentos in Italien keine Strafzettel bekommen – nicht mal wenn man damit wie wir mitten in Rom auf dem Weg zur „Sora Margherita“ entgegengesetzt der Einbahnstraße fährt und in Videofallen rauscht. Am Ziel begrüßt uns Besitzerin Lucia – eine Frau wie aus einem Fellini-Film – mit den Worten: „Nur wenn man die Regeln missachtet, ist es auch Rom.“ Dann zeigt sie uns, wie man Artischocken auf jüdische Art zubereitet, deswegen sind wir ins jüdische Viertel Roms gereist. Das Ergebnis ist kross, ein Traum, was man über andere Teile unserer Reise nicht sagen kann. Ja, die fiaschi … Von Sizi-lien bis zu den -Abruzzen muss Daniel immer wieder den Türöffner abschrauben, um aussteigen zu können. Später in Turin geht plötzlich der Motor aus und springt nicht mehr an. Also schiebe ich das Auto im Starkregen durch den Verkehr bis zum Eingangstor des legendären Fiat-Werks in Mirafiori, wo einst die ersten Cinquecentos vom Band rollten. Ich habe eine Pförtnerin noch nie so schauen sehen. Aus meinen Schuhen rinnt Wasser. Des Fiat-Mechanikers erste Worte: Das Auto sei un disastro. Und dann war da ja noch ein anderes. Am Telefon trennt sich meine damalige Freundin quasi von mir, obwohl sie mir einen Monat zuvor noch die große Liebe geschworen hatte. Wenn ich diese Gelegenheit also nutzen darf: Signore, siamo single!

… und göttlichem Beistand

Der Gedanke an amore führt bei mir sofort zum Glauben. Immer wenn eine Liebe endet, überlege ich: doch Einsamkeit? Kloster? Ordensbruder? Auch deshalb ist der Besuch bei Schwester Maria einer der Höhepunkte der Reise. Sie wohnt nahe des Vatikans, 200 Meter vom Papst entfernt im Schwesternheim der Pallottinerinnen. Gäste wie Daniel und ich können dort übernachten (bucht man per Anruf oder Mail). Am Abend führt uns Schwester Maria durch das alte Arbeiterviertel Trastevere, wir essen Pizza, trinken Wein. Ich will wissen, wie man so gläubig werden kann. Sie antwortet, sie hätte sich in Gott verknallt. Dieser Bund fürs Leben ist bestimmt nicht immer leicht, aber offenbar genauso identitätsstiftend wie das, was wir unterwegs immer wieder erleben: Der Kern ist die Familie, der Küchentisch das eigentliche Zentrum Italiens. Korruption, Krisen, Kriege, Katastrophen können den Staat bedrohen, die italienische Familie wird auch dann noch gemeinsam am Tisch sitzen und darüber sprechen, was man am nächsten Tag kocht.

Die andere Heimat der Italiener ist die Cafébar, fällt mir in Castiglione d’Intelvi auf. Der Ort mit gut 1000 Einwohnern liegt auf einem Hügel oberhalb des Comer Sees. Im Ortskern steht nicht die Kirche, sondern ein Haus mit einer Bar, die Menschen jeden Alters offensteht. Hier wird Lotto gespielt, Fußball geschaut, werden Zeitschriften und Bustickets gekauft, Karten gespielt, wird gefrühstückt, Wein getrunken, und immer wieder aperitivo. Man spricht über den Alltag, über Sorgen und Ängste. Morgen für Morgen, Tag für Tag. Orte wie dieser halten die Gemeinschaft zusammen. In der Pandemie haben sie es schwer. Aber in Krisenzeiten rücken die Menschen hier noch enger zusammen. Also luden viele Familien von Anfang an zum gemeinsamen Abendessen am Bildschirm ein, in verschiedenen Küchen, aber vereint, die italienische Großfamilie wurde größer. Mich erinnerte das an den Küchentisch meiner Großmutter, der eigentlich in einem Dorf in Bayern stand. Im Rückblick kommt mir dieser kleine Ort wie ein römisches Dorf vor und meine Großmutter wie eine italienische nonna.

„Meine italienische Reise – oder wie ich mir in Sizilien einen uralten Cinquecento kaufte und einfach nach Hause fuhr“ (Prestel, 26 Euro) erzählt, was Marco Maurer unterwegs noch erlebte, inklusive Rezepten und den Bildern von Daniel Etter.