Logo - Marco Maurer Journalist


Abseits

Als andere Fußballer große Siege feierten und Titel sammelten, musste er zuschauen. Denn İlkay Gündoğan, einst die deutsche Mittelfeldhoffnung, war über Jahre hinweg immer wieder schwer verletzt. Nach einem Kreuzbandriss kämpft er sich nun zurück. Vor ihm liegt die entscheidende Saison seiner Karriere

Wenn man Zeit mit İlkay Gündoğan verbringt, fällt oft das Wort »normalerweise«. Normalerweise hätte er sich an diesem Tag im Mai mit seinem Team, Manchester City, vor dem Spiel zum Aufwärmen getroffen. Normalerweise würde er später im Stadion beim Spiel gegen West Bromwich auf dem Platz stehen, es ist die letzte Chance seiner Mannschaft auf eine Teilnahme an der Champions League. Normalerweise wäre er heute nervöser.
Stattdessen lässt İlkay Gündoğan diesen sonnenklaren Nachmittag über sich ergehen, er steht vor dem Fußballmuseum in Manchester und wartet auf die Anweisungen seines PR-Teams. Er weiß, Termine wie dieser gehören zum Geschäft. Aber seine Augen sagen: Wie lange brauchen wir denn noch?
Anstelle einer Fußballmannschaft schart sich an diesem Nachmittag in der Innenstadt von Manchester ein Social-Media-Team der Werbeagentur Jung von Matt um ihn. Ein sogenannter Junior Strategy Consultant und eine Fotografin der Agentur sind extra aus Hamburg angereist. Die Fotografin macht an diesem und dem nächsten Tag mehr als tausend Fotos von ihm.
Vor dem National Football Museum, in der Fußgängerzone, der Shopping-Mall, im schwarzen SUV, klick.
Die besten Bilder werden nach und nach seine Facebook- und Instagram-Profile füllen. Die Werbeagentur soll aus ihm eine unverwechselbare Marke machen. Das Problem ist nur, İlkay Gündoğan hat bereits seit über drei Jahren ein Image: das des dauerverletzten Fußballers.
Der 26-Jährige war eine der ganz großen Hoffnungen des deutschen Fußballs, er galt als Nachfolger von Bastian Schweinsteiger. 2012 wurde er mit Borussia Dortmund deutscher Meister und Pokalsieger, im verlorenen Champions-League-Finale gegen den FC Bayern erzielte er 2013 ein Tor. Dann setzte ihn eine Rückenverletzung mehr als ein Jahr außer Gefecht, im Mai 2016 kam die nächste Verletzung, eine herausgesprungene Kniescheibe. Trotzdem wechselte er nur einen Monat später zu Manchester City. Noch in der Hinrunde, im Dezember 2016, riss sein Kreuzband. Durch die Verletzungen verpasste er eine WM und eine EM und 150 Spiele im Verein. Insgesamt pausierte İlkay Gündoğan in den vergangenen drei Jahren mehr, als er Fußball spielte, fast zwei Jahre.
Jetzt will er wieder fit für die ganz großen Spiele werden. In den letzten Monaten durften wir ihn bei der Reha begleiten. In der gerade begonnenen Saison wird sich zeigen, ob es ihm gelingt, eine Spielzeit verletzungsfrei durchzuspielen und vielleicht noch eine WM zu prägen, die im Sommer 2018 in Russland. Es ist die wichtigste Spielzeit seiner Karriere.
Der Junior Strategy Consultant sagt, das derzeitige Image Gündoğans sei »ein riesiges Problem: Normalerweise«, da ist es wieder, dieses Wort, »geht es darum, das Image eines Fußballers zu erweitern«, etwa seine private Seite zu zeigen. Bei İlkay Gündoğan ist das aber durch die Verletzungen schwer möglich.
Der Fußballer interessiert sich sehr für Mode, liebt den klassischen Auftritt. Heute trägt er ein schwarzes, kragenloses Hemd. Sein Auftreten unterscheidet ihn von anderen Fußballern, die oft aussehen wie einem Hip-Hop-Video entsprungen. »Wir würden İlkay gern mal zu Modeveranstaltungen schicken, ihn mit einem anderen Kontext aufladen«, sagt der Consultant. »Das kann man aber schlecht zu einer Zeit, in der er Monate raus ist und alle Leute sagen: Wie wäre es, wenn du mal wieder Fußball spielen würdest?«
Ein Nutzer schreibt unter fast jeden von İlkay Gündoğans Einträgen auf Facebook: »RIP«, Ruhe in Frieden. Andere witzeln, er sei ein guter Spieler, allerdings nur vor der Saison, denn in der Saison verletze er sich ja. Und viele schreiben: Manchester City hätte ihn besser nie verpflichtet.
Wie kommt ein Profifußballer damit zurecht? Zweifelt İlkay Gündoğan an sich? Denkt er manchmal, dass sein Körper dem Profifußball nicht gewachsen ist? Wer gibt ihm Halt?
Vier Uhr nachmittags, die Fotosession ist beendet, İlkay Gündoğan bestellt sich in einem Café im Zentrum Manchesters einen Cappuccino, der Besitzer kennt ihn. »Es wäre falsch, wenn ich sagen würde, mich treffen die Kommentare nicht«, sagt er mit sanfter Stimme. Er lese viele der Einträge aus dem Netz, sagt er, sie spukten ihm dann noch ein, zwei Stunden durch den Kopf. Erst wenn er etwas anderes tue – einen Film schauen, etwas essen gehen –, seien sie weg.
»Was ich schlimm fände, wäre, wenn ich abgeschrieben würde.«
Aber ist das nicht bereits geschehen?
»Kann sein«, sagt er. »Ja.«
Dann erzählt er von jenem Abend im Dezember 2016, Heimspiel gegen Watford, in der 34. Minute setzt ein Gegenspieler zum Dribbling an, legt sich den Ball zu weit vor, Gündoğan will seinen Körper wie einen Keil zwischen Ball und Gegner stellen. Als er das rechte Bein aufsetzt, spürt er eine kleine Verschiebung, ein Knacken im Knie, hebt noch im Fallen die Hand. Dann ist schon der Arzt da, er bekommt Eis aufs Knie, er versucht es noch einmal, es scheint zu gehen. Es ist wohl der Schock, denkt er sich noch, die Sorge vor einer erneuten Verletzung, doch beim nächsten Lauf merkt er: Der Schmerz ist zurück.
Im Behandlungszimmer des Stadions kommen ihm die Tränen. Zwei Ärzte blicken auf sein geschwollenes Knie, wollen ihre ersten Eindrücke nicht mit ihm teilen. »Es sieht nicht gut aus, İlkay«, sagt einer, als er sie mit Fragen löchert: Das Kreuzband könnte gerissen sein.
Draußen läuft noch das Spiel, als bereits die ersten Nachrichten auf seinem Handy eingehen. Zuletzt hatten ihm so viele Menschen geschrieben, als er gegen Barcelona zwei Tore erzielt hatte. Jetzt sitzt er heulend in der Kabine der Cityzens, wie die Mannschaft auch genannt wird. Eine Nachricht, die er auf seinem Handy gespeichert hat und die er uns zeigt, ist von Oliver Bierhoff:

Hi İlkay, habe eben die Nachricht gehört. Wie geht es dir?
Wie schlimm ist es? Ich schicke gute Energie.
Liebe Grüße, Oliver

Einen offensichtlichen Grund für seine Verletzungsanfälligkeit gibt es nicht. Warum gerade ich, denkt er. Ich achte auf meine Ernährung, mache Extraeinheiten, mit meinem eigenen Physiotherapeuten. Werde ich nun endgültig abgestempelt als ein Fußballer, bei dem es nur eine Frage der Zeit ist, bis er sich die nächste Verletzung einfängt? Und: Hätte ich lieber grätschen sollen in der Szene?
Auf den Fernsehaufnahmen sieht man, wie sich an der Außenlinie Pep Guardiola hilflos im Kreis dreht, wie ein Vater, dessen Sohn in Gefahr, der selbst aber machtlos ist.
Die Liaison zwischen Gündoğan und Guardiola begann im Sommer 2013, im Supercup-Finale Dortmund gegen Bayern, Gündoğan spielte überragend. »In dieser Zeit musste ich auf dem Platz nicht überlegen, alles war im Fluss, alles lief von selbst. Es gibt für einen Fußballer kein besseres Gefühl«, sagt Gündoğan.
In der Halbzeit standen sie am Ausgang des Spielertunnels, im Vorbeigehen gab Guardiola ihm einen Klaps gegen den Bauch. Gündoğan wird den Moment nicht vergessen. Er hat Barcelona, die Mannschaft, die von Guardiola geprägt wurde, schon immer vergöttert. War die kleine Berührung Zufall? War sie anerkennend gemeint? İlkay Gündoğan sagt, er habe sich auf die Szene etwas eingebildet.
Pep Guardiola ist jemand, der Menschen für sich einnimmt. Journalisten verfallen ihm, Spieler wechseln seinetwegen den Verein. Die Geste dürfte ein erster Flirt gewesen sein. Später wird Guardiola Gündoğan verraten, dass der in seiner Münchner Zeit ganz oben auf seiner Wunschliste stand.
Zwei Spielzeiten lang will ihn Guardiola nach München lotsen, ihm gefällt, dass Gündoğan nicht nur die Bälle messerscharf verteilen kann, sondern dass er mit Tempo auf die Verteidiger zuläuft. Davon gebe es nur ganz wenige, habe Guardiola später zu ihm gesagt, die meisten offensiven Mittelfeldspieler drehten eher vor den Verteidigern ab und passten dann auf die Flügelspieler. Er sei einer, der einem Spiel eine entscheidende Wendung geben könne, ein »Gamechanger«.
»Pep und ich teilen die Idee vom idealen Fußball – also den Ball besitzen, flach kombinieren, im Mittelfeld mit technisch versierten Spielern den Gegner dominieren«, sagt Gündoğan.
Einmal soll Guardiola als Bayern-Trainer sogar verkündet haben, er plane mit Gündoğan und Thiago ein Mittelfeldduo, das das Spiel des FC Bayern prägen solle wie früher das magische Duo Xavi und Iniesta, das zwei EM- und einen WM- sowie vier Champions-League-Titel mit dem FC Barcelona gewann. Guardiolas Biografen schreiben, ihm sei dann klar geworden, dass seine Idee vom Spiel nicht umsetzbar sei, weil er sich von den Münchner Entscheidern oft unverstanden fühlte. Auch Gündoğan glaubt das. Als Guardiola seinen Abschied verkündete, war der erste Spieler, den er für Manchester City verpflichtete: İlkay Gündoğan.
Nachdem Gündoğan sich verletzt hatte, rutschte City von Platz eins auf Platz fünf ab. Guardiola meinte, es mache keinen Sinn mehr, an die Tabellenspitze zu schauen. Trotz des Kreuzbandrisses hat er Gündoğan nie infrage gestellt.
Für Gündoğan bedeutet das, er ist noch immer beim richtigen Club, beim wohl besten Trainer der Welt. Bleibt er die nächste Saison verletzungsfrei, könnte er sogar noch in einem Champions-League- genauso wie im WM-Finale spielen. Verletzt er sich wieder, droht ihm ein Schicksal wie dem hochbegabten, aber oft verletzten Holger Badstuber, der von Bayern zum Aufsteiger Stuttgart wechselte.
İlkay Gündoğan bezahlt seinen Cappuccino, blickt auf die Uhr, kurz nach sechs, in drei Stunden wird das Match gegen West Bromwich angepfiffen, das letzte Heimspiel der Saison. Er möchte rechtzeitig in Richtung Stadion aufbrechen, der Feierabendverkehr in Manchester ist berüchtigt.
Betrachtet er die anstehende Saisonvorbereitung als die wichtigste seines Lebens?
»Kann sein, ich will es aber selbst so nicht umschreiben«, antwortet er.
Weil der Druck dann zunehmen würde?
»Ja«, aber er verspüre den Druck weniger von außen. »Ich will selber die Premier League gewinnen, selber die Champions League und die WM spielen. Einfach spielen.«
Ob er darüber nachdenke, was wäre, wenn er sich noch einmal schwer verletze?
İlkay Gündoğan zögert und sagt dann: »Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich gar nicht darüber nachdenke.«
Eine Stunde später läuft er durch die Katakomben des Stadions in Richtung Tribüne. Er grüßt fast alle, die ihm begegnen, schaut ihnen in die Augen und fragt Kellner und Köche im VIP-Bereich nach ihren Familien. Jemand, der ihn gut kennt, sagt, er sei »definitiv kein Max Kruse, kein Zlatan Ibrahimović«.
İlkay Gündoğan schweigt mehr, als er spricht. Redet er doch, wägt er zuvor seine Worte ab. Er gilt als klug, hat nicht nur Spielintelligenz, sondern auch Abitur.
Seine Mutter, sagt er, beschwere sich, dass er so wenig rede, sie nicht öfter anrufe. »Aber ich bin halt nicht der kommunikativste Mensch. Das kritisieren viele Leute an mir, auch dass ich zu wenig über meine Sorgen und Probleme rede. Wahrscheinlich fresse ich auch Dinge in mich hinein«, sagte er und blickt aus seiner Lounge in das Stadion, das sich nur langsam füllt.
Was frisst er in sich hinein?
Erst schweigt er. Vielleicht könne man später darüber sprechen, sagt er dann.
Holt er sich, um mit alldem klarzukommen, auch Rat von einem Psychologen?
»Die Vereinspsychologen würden gern mit uns verletzten Spielern reden. Aber viele sind nicht offen dafür. Ich auch nicht, und ich finde es generell nicht notwendig, über meine Probleme zu sprechen. Obwohl es vielleicht besser wäre«, sagt er.
In die blauen Ledersitze in Gündoğans Lounge setzen sich nun seine Gäste: sein Cousin İlkan, ein paar Werbeleute, Freunde von Leroy Sané, dem zweiten deutschen Nationalspieler bei Manchester City. Er spielt an diesem Tag. Im Hinspiel hat Gündoğan selbst noch zweimal getroffen und seinen Verein an die Tabellenspitze geschossen.
Auf dem Feld pfeift der Schiedsrichter die Partie an. »Das ist der schlimmste Moment das ganzen Spiels«, sagt İlkay Gündoğan. »Doch ich habe mich daran gewöhnt. An einem Kreuzbandriss ist noch keine Fußballerkarriere gescheitert.«
Jetzt helfe es ihm, dass er vor drei Jahren schwere Rückenprobleme hatte. »Das schlimmste Jahr meines Lebens«, sagt er und erzählt, wie er von Arzt zu Arzt ging und einmal sogar den Rat bekam, seine Wirbelsäule versteifen zu lassen. »Wahrscheinlich hätte ich dann nie wieder Fußball gespielt.« Aus Frust habe er in dieser Zeit zu viel gegessen, am Ende hatte er drei, vier Kilo zu viel. Irgendwann saß Gündoğan einem Arzt in London gegenüber, der entdeckte, dass ein winziger Knochen in der Wirbelsäule auf einen Nerv drückte. Der Knochen wurde verkürzt, bald stand Gündoğan wieder schmerzfrei auf dem Platz. Heute sagt er, keine seiner anderen Verletzungen komme ansatzweise an das Gefühl heran, das er hatte, als er in 13 Monaten kein Spiel machte, seine Schuhe kaum alleine anziehen konnte. »Er wusste nicht mehr weiter«, erklärt İlkan Gündoğan, der Cousin. »Das war der Tiefpunkt, alles erschien ihm negativ.«
İlkan und İlkay sitzen an diesem Abend im Stadion nebeneinander. Die beiden sind fast gleich alt, beide sind in der Nähe von Gelsenkirchen aufgewachsen, ihre Väter sind Brüder, die Schwestern geheiratet haben. Früher haben die Väter draußen den Grill angeschmissen, die Mütter in der Küche Salate vorbereitet, die Cousins im Hinterhof die Garagentore mit ihren Fußbällen demoliert und sich am Abend ein Bett geteilt. Heute ist İlkan nur für seinen Cousin da. Sie leben gemeinsam in Manchester, in den City Suites, einem 16-stöckigen Gebäude aus schwarzem Glas im Zentrum der Stadt. Sie teilen sich fünf Hotelzimmer, weil ihre Wohnung im gleichen Gebäude nicht fertig wird. In ihrer Freizeit spielen sie oft stundenlang Fifa auf der Playstation, ein Koch bereitet jeden Abend gesunde Gerichte für sie zu.
İlkan weiß, wann er seinen Cousin in Ruhe lassen muss. Zum Beispiel in den Tagen nach dem Kreuzbandriss. »Keiner redete, jeder wusste, was Sache ist«, sagt İlkan. Ein falsches Wort, und İlkay seien die Tränen gekommen. Außerdem: Sein Cousin sei Nationalspieler, das Handy gehe in solchen Wochen pausenlos, die Bild, der Bundestrainer, Bekannte.

Hi Oli,
sorry, dass ich mich erst jetzt melde.
Brauchte ein bisschen Zeit für mich. Habe mir das vordere Kreuzband gerissen. Sehr bitter, macht mich megatraurig. Ich weiß nicht, womit ich das verdient habe. Werde jetzt eine gute Lösung finden, und dann geht es wieder von vorne los. Leider mal wieder. Danke für deine Nachricht.

Hallo İlkay,
tut mir so leid. Auf manche Fragen gibt es im Leben leider keine Antwort, damit darf man sich auch nicht zu lange aufhalten und muss wieder an Lösungen arbeiten. Kann ich dir irgendwie helfen?
Liebe Grüße, Oliver

Wenn die ganze Fußballwelt bei İlkay anklopft, fragt İlkan nur das Nötigste. Er weiß, irgendwann kommt İlkay zu ihm und erzählt von allein. Bemerkt er, dass sein Cousin sich zu viele Sorgen macht, ruft er schon einmal in der gemeinsamen Heimat an. Tags darauf stehen dann einige alte Freunde aus Gelsenkirchen in den City Suites. İlkan ist auch der Assistent seines Cousins. Weil die Wohnung nicht fertig wird, legt er sich mit den Handwerkern an. Fehlt nach dem Training das Shampoo, bringt İlkan es vorbei. »Wir sind fast wie ein Ehepaar«, sagt İlkay. İlkay, zu Deutsch »neuer Mond«, ist der Stille, İlkan, was übersetzt »der erste Moment« bedeutet, der Extrovertierte. Zum Stadion fährt İlkan oft mit heulendem Motor in seinem Nissan voraus, weil er im Gegensatz zu İlkay Manchesters Straßen kennt. »Ich mag seinen Fahrstil nicht«, sagt İlkay. Jetzt blicken beide aufs Spielfeld und nippen an ihrem Minztee, noch immer 0 : 0. Gewinnt City heute, fehlt nur noch ein weiterer Sieg, und sie spielen im Herbst in der Champions League. İlkay dürfte der stillste Mann im ganzen Stadion sein. İlkan schreit schon mal einen Satz in Richtung Feld: »Mann, alles frei rechts, verlager doch, Alter!«
Einer der besten Spieler ist Leroy Sané. In der zweiten Halbzeit macht er eine Schwalbe, die Gündoğans machen Witze über die Aktion. Sie finden, Schwalben gehören sich nicht.
Das Spiel endet 3 : 1 für Manchester. Danach verschwindet İlkay, kurz darauf steht er plötzlich unten auf dem Platz, zum ersten Mal seit seiner Verletzung. Während die anderen Bälle zu den Zuschauern kicken, wirft er sie mit der Hand. Ein Schuss wäre noch zu gefährlich. Als er vom Feld in die Lounge zurückkehrt, verabschiedet sich die Kellnerin von ihm: »Bis zur nächsten Saison, Mister Gündoğan«, sagt sie
»Auf Wiedersehen, bis dahin«, antwortet er und dann: »Aber ich hoffe, dann erst nach dem Spiel, denn nächste Saison stehe ich wieder auf dem Platz.«
»Aber ja, natürlich, Mister Gündoğan«, sagt die Kellnerin und lächelt höflich.
Am nächsten Tag trainiert er an Geräten, um seine Muskeln aufzubauen, er läuft erste Runden. Sein Weg zurück auf den Platz, den sein Hamburger Social-Media-Team als #roadtorecovery vermarktet, ist damit weit fortgeschritten. Nur Übungen mit dem Ball oder Sprints sind jetzt, Mitte Mai, fünf Monate nach seiner Verletzung, noch nicht erlaubt.
»Ich weiß, dass es ein Fehlgefühl ist, aber ich fühle mich, wenn ich so im Fitnessraum trainiere, nicht mehr als Teil der Mannschaft«, sagt Gündoğan. Jedoch glaube er, dass er das aushalten müsse. Schließlich wisse er, dass er normalerweise ein wichtiger Teil der Mannschaft sei. Wenn Pep Guardiola ihn im Trainingszentrum treffe, sage er Sätze wie: »Wir werden auf dich warten, İlkay.«
Fußballer sind Mannschaftsportler, sie essen, reisen, erringen Siege und verarbeiten Niederlage zusammen. İlkay Gündoğan kämpft die meiste Zeit allein. Sein Team besteht aus seinem Operateur in Barcelona, zwei Mannschaftsärzten in Manchester, zwei Physiotherapeuten und zwei Fitnesstrainern des Vereins sowie einem privat engagierten Physiotherapeuten und einem Fitnesstrainer aus Deutschland, mit denen er abends oft Extraschichten im Fitnessstudio seines Hochhauses einlegt. »Wenn ich den Plan nicht erfüllen kann, bin ich unglücklich«, sagt er. Nur sonntags ruhe er sich aus. Diese Pause brauche der Körper. Jeden Montag spüre er dann, dass sein Körper im Vergleich zur Vorwoche einen Sprung gemacht habe. Gündoğan wäre schon weiter, wären ihm nicht im April die Mandeln herausgenommen worden. Ein von Sportreportern unbeachteter Eingriff, der seine Rückkehr um einen Monat verzögerte. Er hoffe, sagt er, dass er nun weniger Infekte haben werde.
Manchmal beim Gehen knackt sein Knie, dann denkt er: Bin ich überbelastet? Ist was passiert? Deswegen geht er öfter als nötig zu den Ärzten. Manchmal bittet er sie, eine Kernspintomografie zu machen. Sieht er die Bilder, ist er wieder beruhigt.
Mittagessen, ein schickes italienisches Restaurant, zwei Tage nach dem Spiel. Cousin İlkan schimpft derbe über die englischen Handwerker, İlkay hat auch keine gute Laune. Bereits vor Monaten wurde ihnen zugesichert, in ein 400 Quadratmeter großes Apartment im 16. Stock der City Suites ziehen zu können. Aber zum verabredeten Einzugstermin hämmerten die Handwerker. So geht das seit Monaten.
Pep Guardiola ist längst in seine Wohnung im obersten Stockwerk der City Suites eingezogen. Einmal sieht man ihn, von der Straße aus, in dem spitz zulaufenden Apartment im 16. Stock stehen und minutenlang über Manchester blicken. Auch der Jungnationalspieler Sané schläft bereits in seinem Apartment im elften Stock. Man hört, dieser Umstand nage an Gündoğan, er fühle sich oft am Ende der Wertschätzungskette. Er kann tagelang durch diese fußballverrückte Stadt, Heimat zweier großer Vereine, laufen, kaum jemand möchte ein Selfie. Wenn er auf das Trainingsgelände der Cityzens fährt, fragt ein Ordner schon mal: »Wer sind Sie?« Einmal isst er zusammen mit Leroy Sané in einem Restaurant. Ein Mann bittet Sané um ein Foto, Gündoğan erkennt er nicht.
»Wenn man nicht auf dem Platz steht, gerät man in Vergessenheit. Damit muss man erst einmal klarkommen«, sagt Gündoğan.
Verbringt man Zeit mit ihm, öffnet er sich immer mehr. Er sagt, er freue sich zwar, wenn Leroy Sané sich, wie in den letzten Monaten, in die Nationalelf spielt oder wenn er sehe, dass dessen Konterfei auf den Bussen der Stadt Manchester spazieren fährt. Andererseits: »Etwas im Inneren sagt mir, ich hätte das auch gern. Wobei das mit dem Neid schlimmer ist bei Leuten, die die gleiche Position wie ich spielen.«
Dass andere jetzt das erreichen, was ihm zugetraut wurde, ist das Drama seines Lebens. Er sieht Toni Kroos den WM-Pokal in die Luft strecken und drei Mal die Champions-League-Trophäe. »Ich spiele die gleiche Position wie Toni, ich bin genauso alt wie er, natürlich würde ich mir wünschen, meine letzten Jahre wären auch so verlaufen wie seine. Ich wäre an seiner Stelle, vom Ansehen her«, sagt er. Gleichzeitig muss er mitansehen, wie jüngere Spieler wie Leon Goretzka oder Emre Can nachkommen, auch wenn er immer noch so selbstbewusst ist, zu sagen, man dürfe Potenzial nicht mit Qualität verwechseln.
Seine glücklichste Zeit sei in Nürnberg gewesen, sagt er, und sein Blick bekommt etwas Strahlendes. Er kam im Februar 2009 mit 18 neu in die Stadt, besuchte die elfte Klasse des Gymnasiums, stieg von der Zweiten in die Erste Bundesliga auf, verhinderte mit einem Tor den Wiederabstieg. Vor allem aber habe er sich aufgehoben gefühlt in einer Clique aus Mitspielern, jede Woche seien sie zusammen ins Kino gegangen. Mit manchen aus der Zeit sei er heute noch befreundet.
»Je höher du kommst, desto weniger familiär ist es, desto weniger Freunde hast du«, sagt sein Cousin. »Bei Clubs wie Manchester City machen die Spieler ihren Job, trainieren, gehen nach Hause.« Und: »Fußball ist geil, aber nur 90 Minuten lang.« Es sei »das dreckigste Geschäft überhaupt«.
İlkay schweigt erst zu diesen Sätzen und spricht dann über allgemeine Dinge. Dass Vereine die Wünsche ihrer Trainer nicht erfüllten. Dass Gerüchte gestreut würden, um diese Transfers zu verhindern. Dass Trainer vom Verein Spieler vorgesetzt bekämen, die sie nicht wollten, obwohl den Spielern gesagt werde, sie seien wichtig in den Planungen des Vereins. Auch störe ihn das Image von Fußballern. Schreibe die Bild etwa über Kleidungsstil oder Autos bestimmter Kollegen, würden viele Menschen alle Fußballer in die gleiche Schublade stecken.
Man kann an İlkay Gündoğan gut sehen, was der Preis für das Leben als Profifußballer ist: die mit Transfers verbundenen Ortswechsel, der Verlust von Bindungen und die Schwierigkeiten, neue aufzubauen. Auf die Frage, ob er sich oft allein fühlt, antwortet er: »Du verbringst halt wahnsinnig viel Zeit zu Hause.« Und dass er hier in Manchester zwar schon Menschen kenne, aber »neue Freunde, das ist immer so eine Sache«, er verbringe lieber Zeit mit İlkan und alten Freunden. Nach der Karriere wolle er deswegen zurück nach Deutschland.
Während des Mittagessens beim Italiener zeigt İlkay Gündoğan auf einen der Nebentische und sagt, fände er dort eine Frau interessant, würde er nicht rübergehen. Er sei nicht der Typ für so etwas. »Ich versuche meistens über Instagram, einen Menschen zu finden.« Diese Art der Kontaktaufnahme zwischen Star und Followern sei inzwischen ganz normal unter Fußballprofis.
Im September 2015 trennten er und seine Freundin sich nach zwei Jahren, sie ist eine deutschtürkische Schauspielerin, die in Gute Zeiten, schlechte Zeiten mitwirkte. Er wollte nach dem Training entspannen, erklärt er, sie, die für ihn nach Dortmund gezogen war, etwas unternehmen. Er fühlte sich mit ihrem Einzug in sein Haus eingeschränkt, sie heimatlos. Sie, fünf Jahre älter, habe vielleicht Kinder gewollt, sagt er, er nicht. »Ich bin weit davon entfernt, dass ich sagen würde: Ich war perfekt, und sie war Mist«, sagt er.
Heute wünscht sich Gündoğan eine Familie, das sei doch »der Sinn des Lebens«. Zu seinem Vater, einem ehemaligen Lkw-Fahrer, der drei Kinder hat, sagte er neulich, er wolle auch erreichen, was dieser hat. Seine Eltern, die beide wieder in der Türkei leben, sorgten sich bei jeder Verletzung, wie er sagt, »extrem«. Seine Mutter fliegt schon mal ein und kocht für ihren Sohn, wenn sie am Telefon hört, dass es ihm schlecht geht.
Während seiner Verletzung ist er von seinem Verein manchmal zu Interviews geschickt worden, dann erklärte er auf NBC die Spielideen Guardiolas. Er merkte, dass er gut darin ist. Im vergangenen Jahr, sagt er, habe sich der Gedanke verfestigt, Trainer werden zu wollen. Einer, der weiß, wie er mit Menschen umgehen muss. Aber er weiß auch, es ist schwierig, einen guten Trainerjob zu bekommen, Kontakte spielen eine große Rolle. Andererseits: Wohnt er nicht gerade Tür an Tür mit einem der besten Trainer der Welt?
Wochen später, ein Freitag Anfang August. İlkay Gündoğan schlappt in Adiletten zum Sofa. Seine Wohnung ist endlich fertig. Sie ist in Grau und Weiß gehalten, überall hängen Flachbildschirme. In seinem »Cinema-Room« kuschelt er sich in eine graue Decke ein und blickt auf den wandgroßen Bildschirm. Er sieht Guardiola, Sané, Kevin De Bruyne aus einem Bus steigen. Testspiel in Island. Über dem Stadion in Reykjavík brummt ein Flugzeug, in Manchester blickt Gündoğan nach oben, die Boxen seines Kinoraums leisten hervorragende Arbeit, es hört sich an, als flöge das Flugzeug durch den abgedunkelten Raum.
Er trainiert zwar wieder mit der Mannschaft, doch am Vortag habe einer der Trainer zu ihm gemeint, dass ein Einsatz in dem Testspiel zu früh käme. Heute fühle sich diese Entscheidung richtig an – der Hüftmuskel ist fester, der Rücken ist ein wenig steif, der Körper ächzt unter der stärkeren Belastung.
»Dodo« ist bei ihm, Dobromir Karkoszka, sein privater Fitnesstrainer aus Essen. »Wer hat das Tor gemacht?«, fragt Dodo İlkay und İlkan Gündoğan.
»Jesus«, antwortet İlkay, das ist der neue brasilianische Mittelstürmer. Manchester City hat knapp 250 Millionen Euro in seinen Kader investiert. Bei City spielen inzwischen die früheren Bundesliga-Profis Sané, Gündoğan, De Bruyne. Allesamt Spieler, die Pep Guardiola einst schon zu Bayern holen wollte. Gündoğan selbst glaubt, dass Guardiola die Bayern nie verlassen hätte, wenn er seine Wunschspieler damals hätte kaufen können. Nicht zu unterschätzen ist dabei, dass er viele seiner Informationen von Guardiola selbst haben dürfte. Ihre Wohnungstüren liegen nur vier Meter voneinander entfernt, man begegnet sich, im Flur, im Aufzug.
In seinem Cinema-Room sieht Gündoğan ein Team, das Guardiolas Vorstellungen von Fußball umsetzt. In den Testspielen haben sie gegen Manchester United und Real Madrid gewonnen. City ist ein Team, mit dem Gündoğan in dieser Saison tatsächlich Champions-League-Sieger werden könnte.
Er glaubt, dass er im Laufe des Septembers wieder im Kader stehen werde. Seine Stimme ist entspannter als einige Monate zuvor. Er hat ein Zuhause und ist von Menschen umgeben, die ihm guttun.
Auch Arthur ist jetzt gekommen, sein Physiotherapeut. Er arbeitet fast nur noch für Gündoğan, behandelt ihn zweimal täglich. Kurz vor Mitternacht bekommt Gündoğan seine letzte Massage. Neben einem Eames Chair hat Arthur eine einfache Klapp-Massageliege aufgebaut, İlkay Gündoğan wird durchgeknetet und surft zeitgleich auf Instagram.
Dodo und Arthur seien beide Profis, sagt Gündoğan, aber ihm sei das Zwischenmenschliche wichtiger als das Fachliche. Sie gäben ihm positive Energie. Sie sind fast Freunde geworden, wohnen auch in Gündoğans Apartment, wenn sie in Manchester sind.
Kurz nach Mitternacht, die Massage ist gerade beendet, klingelt es. Leroy Sané, der Nachbar aus Stockwerk elf, ist gerade aus Island zurückgekehrt, er setzt sich zu den anderen aufs Sofa. Es riecht in der Wohnung nach Shisha, İlkan hat was aufgesetzt, läuft mit einer Kohlezange durch die Wohnung. İlkay bleibt abstinent. Dodo, der Fitnesstrainer, sagt, İlkay sei noch nie so fit gewesen wie derzeit. »Während andere Fußballer im Urlaub gesoffen und Party gemacht haben, war er im Gym.«
Die Männer unterhalten sich über gutes Bier, dreiste Berater, das beste Steak des Ruhrgebiets und über Frauen. Als seine letzte Beziehung zu Ende ging, sagt Gündoğan, habe er niemandem erzählt, wie schlecht es gelaufen sei. Diese Krise habe auch auf sein Spiel Einfluss gehabt, der Fokus sei verloren gegangen.
Sind das die Dinge, die er in sich hineinfrisst, wie er sagte?
Er zögert, sagt dann: Ja. Das und wie schlecht es ihm unmittelbar nach der erneuten Verletzung gegangen sei. Keiner wisse, welche Dinge da mit aller Gewalt in einem hochkämen. Irgendwann löse sich das aber alles automatisch, vor allem durch die Zeit, die vergeht. Auf die setze er.