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We want to ride our bicycles

Espresso, WLAN, Werkstatt: Londoner lassen ihre teuren Fahrräder in schicken Cafés reparieren

Im fernen Frankreich stopfen die Radrennfahrer Müsliriegel in die Rückentaschen ihrer Trikots. Im Café in London steht zur selben Zeit Cally von Callomon am Tresen, verfolgt die Tour de France auf einer Videoleinwand und bestellt gleichzeitig mit feinem britischen Akzent eine „cinnamon apple pie and a cappuccino, please!“ Als er bezahlen will, kramt er wie seine Vorbilder bei der Tour de France am Rücken seines rot-weiß-blauen Trikots. Dort findet sich kein Riegel; an dieser Stelle trägt ein urbaner Radfahrer wie Cally stattdessen sein Portemonnaie spazieren. Und das Zücken der Börse sieht dann tatsächlich ziemlich elegant aus.

Im Londoner East End sind solche Szenen zu beobachten, denn seit mehreren Jahren ist dort eine Cycle-Boheme zu Hause. Und besonders gerne trifft sich diese im Café Look Mum No Hands!, kurz LMNH, dessen Namen sich auf frühe Kindheitserinnerungen der drei Besitzer beruft, als sie ihren Müttern stolz erklärten: Schau, wir können nicht nur ohne Stützräder in die Pedale treten, sondern ab jetzt auch ohne Hände am Lenker! Ins LMNH kommen Menschen, die es – trotz der eher unwirschen Bedingungen auf Londons Straßen – lieben, Fahrrad zu fahren, und das auch zur Schau stellen. Weswegen der Fotograf Horst A. Friedrichs viele seiner Motive für sein im Prestel-Verlag erschienenes Buch „Cycle Style“ hier gefunden hat.

Das Café lebt von gesamtgesellschaftlichen Fahrrad-Erinnerungen. An den Wänden finden sich Bilder von Radlegenden wie Eddy Merckx, Greg LeMond oder Bernard Hinault; überall hängen alte Räder und hübsche Rennvelos. Läuft gerade nicht die Tour de France auf der Videoleinwand, werden mythischeRennen früherer Jahrzehnte gezeigt. Die Gäste essen dazu rot-weiß gepunktete Cupcakes – glasiert in den Farben des Trikots des Führenden bei der Bergwertung der Tour de France.

Cally von Callomon ist Sohn einer Schweizerin und arbeitet als Musikmanager. Cally sieht aus wie ein Franzose auf Londonbesuch im Jahr 1932; er trägt neben dem Trikot in den Farben der Trikolore einen Zwirbelbart. Sein Klapprad steht unter dem Tisch. „Ein Brompton 1998“, sagt er, und die britische Rad-Kultmarke klingt plötzlich wie eine Flasche französischer Jahrhundertwein. Er ist ins LMNH gekommen, um einen seiner Klienten zu beraten. Der nette Nebeneffekt: „Hier ist der beste Apfel-Zimt-Kuchen Londons zu haben“, sagt er. Im Café sitzen viele Frauen und Männer in Karohemden und Tweedjacken vor ihren Laptops. Sie schauen auf zur Leinwand, die Etappe ist kurz vor dem Ziel. Tags zuvor war Cally noch selbst bei der Tour; jetzt ist er zurück im LMNH, das er „meinen Club und mein Büro“ nennt. Unter die Kreativen mischen sich drahtige Radfahrer in enger Radkleidung. Viele Gäste kommen aus ihren East-End-Backstein-Büros, um hier in den Feierabend zu starten – oder sich in der hauseigenen Werkstatt eine Schraube an ihren Rädern anziehen zu lassen.

Das East End will seit Jahrzehnten szenig sein. Und dazu gehören momentan Fahrräder. Man findet hier eine mobile Bus Bicycle Library, die Räder verleiht wie andere Bibliotheken Bücher. Gerade eröffnet auch ein Studio, das Rad, Fitness und Yoga zu vereinen versucht. Und mitten im urbanen Nordosten kann man auf der Hackney City Farm zwischen Schafen, Eseln und Schweinen sein Fahrrad reparieren lassen. Auf dem Feld des Großstadt-Bauernhofs steht ein Filmprojektor, den man selbst mit der Pedalkraft am Laufen halten muss. Nach dem anstrengenden „Cinema-Cycle-Sit-in“ zieht das junge Volk weiter in das nur eine Radminute entfernte Lock 7 – zum Chillen.

Das Lock 7 ist der Ort in London, von dem die Verbindung zwischen Café und Werkstatt ausging. Der Besitzerin, Kathryn Burgess, kam die Idee bei einem Besuch in einer der schlichten Fahrrad-Werkstätten in Kopenhagen. Das Lock 7 eröffnete dann als Werkstatt, Café und Radgeschäft 2008 – gut zwei Jahre vor dem LMNH. Es ist ruhiger, puristischer, weniger retro. Die Kunden hier sind ungezwungener. Beide Cafés pflegen, wohl weil sie sich zu ähnlich sind, eine innige Abneigung gegeneinander – obwohl sie eigentlich das selbe Ziel verfolgen: „Radfahren in London auf die Spur zu bringen“, wie es Matt Harper, einer der Besitzer von LMNH, ausdrückt.

Dass London stilvoll Rad fährt, zeigt schon ein Blick aus den Fenstern des Lock 7. Da kommt Adam vorbei, er fährt, wann immer er die Brücke vor dem Lock 7 überquert, nur auf dem Hinterrad – die Haltung soll ihm Respekt verschaffen, denn die Brücke ist die Grenze zweier East-End-Gang-Distrikte, und Adam ist Mitglied einer der Gangs. Dann fährt Kathryns „Lieblingskundin“ Rachel vor, eine „middleclass lady“, wie Kathryn sagt. Vor vier Jahren kam sie ins Lock 7, trank Kaffee und verliebte sich in ein grünes Fahrrad, das sie an ihr Jugendrad erinnerte. Rachel, die auf dem Land aufgewachsen ist, kaufte es sich, obwohl sie jahrzehntelang nicht mehr auf einem Rad gesessen hatte – aus Angst vor dem Stadtverkehr. Seit einem Jahr ist es nun mit einem Kindersitz ausgerüstet. Eine neue Rad-Generation wächst heran – auch dank der Fahrrad-Cafés.

Und dann ist da noch die Geschichte von Kristian. Die Mutter des heute 15 Jahre alten Jungen stand vor vier Jahren vor Kathryns Tür und fragte, ob sie einen Job für ihren Sohn habe, weil der sonst anfangen würde, „krumme Dinger zu drehen“. Kathryn hatte Arbeit für ihn, sie findet, das Lock 7 habe auch eine soziale Verantwortung für das Viertel. Manchmal ist das aber eine Gratwanderung, denn das Rad, mit dem Adam heute vor dem Geschäft auftaucht, sieht auffallend teuer aus. „Neu? Wie viel?“, fragt Kathryn. Kristian antwortet: „Fünf Pfund“. Sie sagt: „Also geklaut!“ Dass Kristian Hehlerware erstanden hat, ist gut möglich. Denn jeden Samstag wechseln nicht weit entfernt auf dem Broadway Market gestohlene Räder für eine Handvoll Pfund ihre Besitzer, häufig finden sie dort auch ihre Eigentümer wieder – Rückkäufe sind nicht unüblich. Kathryn zuckt mit den Schultern. Sie finde das „blöd, aber dagegen kann man nichts machen“. Dennoch verdient Kristian hier im Lock 7 ein bisschen Geld und bekommt Aufmerksamkeit. „Dann wird’s dir nicht langweilig und du machst keine noch dümmeren Dinge“, sagt Kathryn. Er nickt verlegen.

Nicht langweilig bleibt auch der Blick nach draußen: Radfahrer sind vor dem Lock 7 öfter zu sehen als Autos – die East-End-Bewohner strampeln gerne von zu Hause zu ihren Arbeitsplätzen in Central London. Also: Kaffee bestellen, Kamera zücken und es machen wie der Sitznachbar. Motto: Menschen, die auf Räder starren. Marco Maurer

Fahrradcafés: www.lookmumnohands.com und www.lock-7.com

Alternativer Fahrradverleih- und shop: www.foffabikes.com