Süddeutsche Zeitung
Geh’ saufen!
An diesem Abend im Kesselhaus braucht es nur wenige Momente, um zu merken: Adele, die 22-jährige Sängerin aus London, ist die aktuelle Stimme der Neuen Bürgerlichkeit. Sie schmerzt nach einem langen Arbeitstag oder einer Anti-Atomkraft-Demo nicht, man genießt sie zu einem Fläschchen Bier und kauft im Anschluss an das Konzert Geschirrtücher mit Dackelaufdruck. Das Problem ist, Dinge wie diese – kochen, backen, bügeln oder in der Landlust blättern – kann man auch zu Hause erledigen, während es nebenbei leise plätschert. Sich aber ausschließlich auf Adeles Musik zu konzentrieren ist nur manchmal schön, zumeist aber: radikal öde.
Adele, die jüngst ihr zweites Album „21“ veröffentlichte, beruft sich wie ihre Kollegin Amy Winehouse auf den knisternden Sound der legendären Soul-Labels Stax oder Motown Records. Aber ähnlich wie man Winehouse – aus gesundheitlichen Gründen – den Tipp geben könnte, mal weniger tief ins Glas zu schauen, will man der braven Adele – der Musik wegen – raten: Geh’ saufen! Und lass’ die stets klare Stimme ab und an weniger klar erklingen, schlag’ Haken, sei glamouröser, schmutziger, sei eine Diva. Sogar einen Fehler, oder zumindest eine Unaufmerksamkeit, wünscht man ihr.
Adele schert das nicht, sie will gefallen, sitzt im knielangen Cardigan auf der Bühne, begleitet von einer – natürlich – tadellos aufspielenden Band und trinkt Tee oder heiße Milch mit Honig. Ihre schöne Stimme scheint noch nicht verschönert genug zu sein. Die Instrumentalisierung – brav, unaufgeregt, zuweilen schmierig – scheint aus einem alten Disney-Klassiker geklaut zu sein, nur dass sich das Biest nicht zur Herzensdame gesellen will. Die stärksten Momente gelingen, wenn Adele alleine auf der Bühne sitzt und eine kleine Geschichte erzählt. Dann sollte sie vielleicht nur noch gelegentlich an ihrer Gitarre klopfen oder ein wenig an den Saiten kratzen. Aber da ist nichts. Einfach nichts.
Marco Maurer