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Hau drauf!

Gestresste Städter dreschen nach Feierabend auf Gegner und Säcke ein. Ist Boxen das neue Yoga?

Die zwei Jungs aus dem Fussballteam tun es. Immer mehr Freundinnen und Freunde tun es. Der Sohn der Arbeitskollegin, geschätzt die Hälfte der Halbstarken in den Fussball-Fankurven und das hippe Instagram-Girl, das sich die «Everlast»-Handschuhe, diese 80ies-Lederdinger, für seine Insta-Story so lässig über die Schulter hängt wie das Fäuste schwingende Supermodel Gigi Hadid. Es macht den Eindruck, als hätte der Yogamatten mitführende Mensch Konkurrenz bekommen, und zwar von Wesen allerlei Geschlechts mit definierten Körpern, die sagen: «Ich komm gerade vom Boxen.»

Warum, verdammt, boxen plötzlich alle? Warum ist dieser so anarchische Sport – Schweiss, Schläge, eine gewisse Grundaggression – so beliebt? Warum hat der zwielichtige Kämpfen-bis-aufs-Blut-Superstar Conor McGregor auf Instagram knapp fünfzig Millionen Follower und damit weit mehr als jeweils Barack Obama, Donald Trump, Rafael Nadal, Marie Kondo und Greta Thunberg?

Und wie passt das in unsere Zeit, in der wir uns doch eigentlich nichts mehr wünschen als Frieden auf der Welt? In der wir uns als aufgeklärte Gesellschaft bis grade eben immer weiter in Richtung Sensibilität bewegt haben, Worten und Taten abwägen, Achtsamkeit üben, das Handy auf «Zeit für mich» stellen und ja nur die Räume unserer Mitmenschen respektieren und achten?

Flamur, 27 Jahre alt, prügelt im Ring einer Thaibox-Halle in Zürich Oerlikon auf sein jüngeres Gegenüber ein, seine Beine, seine Ellbogen, seine Knie und seine Hände hageln auf seinen Sparringpartner ein. Der steckt alles mühelos weg, als hätte er ein Body-Treatment im «Dolder Grand»-Spa. An der Goldküste dürften die beiden nicht gross geworden sein. Von der Physiognomie könnte Flamur als «James Bond»-Bösewicht durchgehen, doch dafür ist er zu nett.

Der Botschafter des Thaiboxens

Im Thaibox-Gym riecht es wie 1977, als «Rocky» in die Kinos kam. Auf den Seilen des Boxrings stützt sich ein Mann ab, der auch ein bisschen an Rockys Trainer Paulie erinnert: Natthapong Lertpreechasakun, 59 Jahre alt, ist auch der Mann, der dieser Halle ihren Namen verleiht: Natthapong-Gym.

Natthapong kam 1989 in die Schweiz, war erst als Trainer in verschiedensten Gyms angestellt, bis er vor gut zwanzig Jahren das erste Thaibox-Studio der Schweiz eröffnete. Fünftausend Menschen habe er seither das Thaiboxen beigebracht, sagt er. Viele seiner Schüler eröffneten in den vergangenen Jahren selbst Thaibox-Gyms, in Winterthur, Basel, St. Gallen. Natthapong war zwar 1997 einmal Weltmeister, aber mit Stolz erfüllt ihn vor allem, dass er mithalf, seinen Sport in Europa zu etablieren. In Thailand wurde er dafür zum Botschafter seines Sports ernannt, als damals zweiter Mensch auf Erden.

Die Luft im Gym ist so knapp, dass man glaubt, auf viertausend Meter Höhe zu stehen. In den nächsten drei Stunden hauen hier rund hundert Menschen – zu zwei Dritteln Männer – auf alles ein, was man ihnen hinhält, meist eine Boxpratze. Baff, baff, baff, baff, baff, Tausende Male baff.

«Wir überboomen», sagt Kevin Roth, er ist Natthapongs Sohn und selbst Trainer. Der 27-Jährige kam gerade von der Thaibox-Weltmeisterschaft in Bangkok zurück, mit Silber dekoriert in der Klasse bis 51 Kilo. Man muss nur ein paar Minuten mit ihm am Tresen stehen, schon kommt ein junger Mann und fragt nach absolviertem Probetraining, ob er Mitglied werden könne.

Bis zu 500 neue Mitglieder

Noch vor ein paar Jahren, vor Beginn der Corona-Pandemie, sagt Kevin, dessen Wucht und Kraft ihm nicht anzusehen ist, habe man achtzig Mitglieder gehabt, nun seien es, je nach Saison, mal fünfhundert oder sechshundert, Tendenz steigend. Die vor gut zwei Jahren neu bezogene, grössere Boxhalle platzt bereits aus allen Nähten. Künftig wird hier in Oerlikon, Kreis 11, daher also jeden Tag geboxt. Der bisher freie Sonntag kommt aufgrund der hohen Nachfrage neu dazu.

Warum boomt das Boxen so? Kevins erste Antwort lautet, es gebe eben Role-Models wie Conor McGregor oder den in Zürich geborenen Thaibox-Star Dani Rodriguez. Solche Männer sprächen junge Männer wie Flamur an, die sich intensiv mit Kampfsport beschäftigten. Im Natthapong-Gym nennt man sie «unsere Kämpfer». Die anderen, die Feierabendboxer, sind «oisi Lüt». Die seien in der Überzahl, sagt Kevin.

Sie kämen wohl, weil Boxen einfach zu unserer Zeit passe, gesund sei. «Was glaubst du, Okan?», fragt Kevin einen Kollegen aus dem Trainerteam. Okan, hauptberuflich Sozialpädagoge, meint, viele sehnten sich in diesen unsicheren Zeiten nach etwas, was ihr Selbstbewusstsein hebe. «Kampfsport stärkt einen psychisch», fällt ihm Kevin ins Wort. Boxen für die mentale Gesundheit also, als Therapeutikum unserer Zeit?

Der Optimierungstrend unserer Gesellschaft, der vor den Körpern nicht haltmacht, ist aber ebenfalls in unseren Box-Gyms zu beobachten. Einige stürmen die Boxhallen, weil sie ihre Körper definieren, die Alterung lieber aufhalten als verlangsamen, fuckable sein wollen. Wieder andere zieht der Lifestyle an, diese fancy bunten Glam-Hosen, der Appeal der Handschuhe, der räudige Mundschutz, die bandagierten Fäuste – ein bisschen Ghetto, ein Hauch von Milieu. Boxt nicht deswegen auch der deutsche Autor Moritz von Uslar, um sich zum Freiherren-Titel noch ein wenig Strassenköter-Touch zu holen? Auch wohlstandsverwahrloste Zürisee-Söhnchen finden das fancy.

Boxen für die Mental Health

Dabei verhält es sich mit wirklichen Champions komplett anders: «Ich bin ein Kämpfer, und ich habe nichts anderes im Kopf. Ich denke daran, wenn ich herumlaufe, wenn ich rede, immer. Aber ich möchte nicht, dass man mir das ansieht», sagte einer der grössten Boxer überhaupt einmal, Marvelous Marvin Hagler, mehrfacher Weltmeister, aufgewachsen bei seiner alleinerziehenden Mutter in extremer Armut, als Schwarzer inmitten von Rassenunruhen, Kleinkriminalität, der ganze Shit.

Ähnlich sei es noch immer in Thailand, sagt Kevin. Thaiboxen sei dort verbunden mit Armut, Schmerz, Abnehmen, Nonstop-Training, mit Verletzungen und der Hoffnung, die Familie ernähren zu können, dank Aufstieg durch Boxen. «Wenn einer in Thailand Geld hat, boxt er nicht», sagt Kevin. In der Schweiz sei die Motivation eine andere. Die Menschen hätten eine Lehre, Geld, einen Beruf, eine Freundin, Bars, Discos und Freunde, «Möglichkeiten». Kämpfer wie Flamur, die «es schaffen wollen», seien die Ausnahme. Flamur hat keinen Job, weil er sich aufs Thaiboxen konzentrieren will.

Schlendern wir also nach neunzig Minuten Probetraining – erst aufwärmen, zwei Minuten Springseil, danach Schattenboxen und Schlagkombinationen – durch das Gym und fragen: Warum bist du hier?

Tisa, 32, Sekundarlehrerin, muskulös bis zum Anschlag, pfeilschnelle Gerade, trainiert seit sieben Jahren fünf-, sechsmal die Woche «für meine mentale Gesundheit, um Sachen zu vergessen, den Alltag hinter mir zu lassen».

Egzon, 31, Informatiker, albanische Wurzeln, Stahlbody, sagt, er brauche Boxen als Ausgleich zu dem, was sich den Tag über im Beruf anstaue. Boxen sei eine Art Yoga für ihn.

Rilind, 17, Lehre als App-Entwickler, hat früher Fussball gespielt, suchte aber etwas «für sich selbst». Er boxt seit eineinhalb Jahren, sein Körper eine schwitzende Maschine. Die Zeit im Gym beruhige ihn nach dem Stress bei der Arbeit, täglich sei er hier. Das tue seiner Psyche gut. Er sei heute geduldiger als früher. Er lerne hier, mit seiner Wut umzugehen, seine Kraft hier zu lassen, nachts in Ruhe einzuschlafen.

Carole, 51, Inhaberin einer Kreativagentur, zierliche Erscheinung, definierter Körper, versucht täglich zu kommen, ihr gefalle der komplexe Sport, Schnelligkeit, Strategie, Kraft, Rhythmus. Aber Boxen schärfe auch ihren Fokus, habe etwas Meditatives. Ihre Motivation: Ausgleich zum Job, runterkommen, Stress abbauen, resilienter werden.

Tendon, 44, Anwältin, Buddhistin, zwei Kinder, ist dreimal die Woche hier. Knallbunte Boxhose, rote Fingernägel, eckiger Oberkörper, kein Gramm Fett. Sie komme, um ihre beruflichen Aggressionen abzubauen, Thaiboxen sei ein «super Channel» gegen Lasten aller Art.

Angestaute Wut rauslassen

Studien beweisen: Wir leiden immer öfter an Stress, Burnout-Erkrankungen, emotionaler Erschöpfung, Arbeitsbelastung, das Ich in Gefahr. Ist es da nicht naheliegend, den Härten des Alltags, den Schwierigkeiten im Berufs-, Beziehungs-, Ehe- und Familienleben, der Leistungsgesellschaft einen Punch entgegenzusetzen? Nach dem Motto: Stress macht uns krank, boxen wir uns raus. Ausstieg durch Boxe

In einem Boxsack ist das Gesicht jedes imaginären Gegners vorstellbar. Trump, der beschissene Ex-Freund, der Chef, die Kunden, die Weltlage, die Hamas, der eigene Dämon, die SVP oder die SBB-App, die wieder einmal nicht funktionierte, weswegen die Kontrolleurin eine ungerechtfertigte Busse aufdrückte. Die ganze angestaute Wut einfach raus.

Der Abbau dieser Wut ist zwar nicht zu sehen, aber zu spüren in einem anderen Boxklub in der Zürcher Europaallee, der dieses Gefühl sogar doppeldeutig in seinem Namen trägt: «Lucky Punch», nicht nur glücklicher Knock-out, sondern glücklicher werden durch Draufhauen. «Beat the stress and let it all out on the bag», heisst es auf der Seite des Gyms, das eher einem Nachtklub gleicht: ein dunkler Raum, rote LED, Laserstrahlen, eine Bühne, auf der die Boxtrainerin gerade steht. Ihre gut dreissig Schülerinnen und Schüler hämmern hier nicht aufeinander, sondern auf einen überdimensionalen Punchingball ein, oder sie planken. Übungen, die jedem Krankenkassen-Mitarbeitenden Freude bereiten würden.

Dabei tragen alle Kopfhörer, die erst mit sphärischem Ambient und, je intensiver die Übungen werden, mit treibenden Beats geflutet werden. Ihre Trainerin – Blondie nennt sie sich, eine ehemalige schwedische Meisterin im Boxen – regelt den Sound und das Licht, ist gleichzeitig Boxtrainerin, Fitness-Guru, DJ, Life-Coach und Motivatorin. In jedem Training stellt sie ein Wort ins Zentrum. «Love» lautet das Mantra des heutigen Nachmittags. «Love yourself» – «Send love to your body» – «Share your love», haucht Blondie in ihr Mikro, während ihre Klasse sich dazu den Frust wegballert.

Ich beobachte die Szenerie von einer Etage darüber, zuvor hat mir der Gym-Chef Chris Velkovski, ein Schweizer mazedonischer Herkunft, erzählt, er wolle eine zweite Ebene in den Raum einziehen, der Platz reiche nicht mehr aus. Vor ein paar Jahren hat es mit gut zwanzig Kunden angefangen. Nun boxen hier rund fünftausend Menschen im Monat, im Schnitt knapp dreimal die Woche, zuletzt mit eineinhalb Millionen Umsatz im Jahr. Sonntag ist kein Ruhetag, der Gründer möchte ein zweites Zürcher Studio am Paradeplatz eröffnen.

Ein weiteres existiert bereits in Dubai. In Berlin eröffnet bald das nächste. Ein Franchise solle daraus werden, sagt Velkovski, eine Kette, die die ganze Welt umspanne. Die Chancen stehen gut. Es gibt namhafte Investoren – der Vegi-Guru Rolf Hiltl, der Sex-Toy-Millionär Alan Frei, ein Glasenberg-Spross –, Partnerschaften mit On-Schuhen und Hublot-Uhren – Überboom, auch hier.

Soeder-Seife, Bärte, hippe Leggins

Die Tattoos in diesem Gym: weniger grossflächig, manchmal nur filigran «LP». Über dreissig Anhängerinnen und Anhänger des Boxtempels haben sich die «Lucky Punch»-Initialen wie ein religiöses Statement tätowieren lassen. Es riecht nach frisch gewaschenen Handtüchern oder Soeder-Seife, man könnte hier ohne Probleme ein hippes Musikvideo drehen, sogar die Menschen taugten als hübsch-hipsterige Kulisse: Bärte und Leggins, Gutverdiener, Expats zwischen zwanzig und Anfang vierzig. Wie Boris, 33, Australier, eigene Firma im Private-Equity-Bereich. Er sagt über sein Training: «Es schaltet meinen Kopf aus.» Carlos, 41, aus Barcelona, arbeitet bei der UBS. Ihm hilft Boxen, wenn er einen schlechten Tag hat. Hier könne er die Last draussen lassen, Blondies Training wirke wie ein Katalysator.

Vivian, 30, Immobilienbewirtschafterin, sagt, egal, wie scheisse der Tag gewesen sei, nach dem Training gehe es ihr gut. Rayneli, Pflegefachfrau, kam erstmals in einer Zeit, in der sie eine Krise im Leben hatte, Trennung vom Partner, Herausforderungen im Job. Mittlerweile kommt sie täglich. In Blondies Boxtraining gehe sie, wenn sie mentale Unterstützung brauche, ein paar Mal hätten ihre Worte sie zum Weinen gebracht, sie berührten ihre Seele.

Chris Velkovski sagt, viele dächten, sie kämen wegen der physischen Aspekte, aber was sie immer wieder zurückbringe, sei der mentale Aspekt: «Stress-Relief gegen die Alltagschallenge» nennt er das, spricht von «mentalen Benefits» und davon, «sich zu empowern». Ist das noch Boxen oder schon eine Heilbehandlung? Der «Lucky Punch»-Chef sagt: «Wir packen das Feeling von Boxen in eine moderne, zugängliche Weise.» In unseren Box-Gyms trifft sich eine neue Generation, die tatsächlich eher das Gefühl vom Boxen sucht – weniger aufs Maul, mehr mentale Therapie. Und verlieren ist unmöglich. Man achtet schliesslich auf sich.