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Warum die Einsamen aus aller Welt in ein irisches Dorf reisen

Nirgends in der EU fühlen sich so viele einsam wie in Irland. Unser Autor traf dort nicht nur auf alleinstehende Bauern, sondern auch auf Menschen, denen etwas fehlt. Leiden wir vielleicht alle einmal unter Einsamkeit?

Ich möchte Ihnen hiermit ungewöhnlich nahetreten:

Haben Sie sich je einsam gefühlt? Alleingelassen von der Welt? Einsam inmitten einer Beziehung oder weil Sie keine haben, sich aber eine wünschen? Kommen Sie mit dem leeren Gefühl nach dem Tod eines geliebten Menschen nicht klar? Oder fühlen Sie sich alleingelassen, weil ein Mensch Sie verlassen hat? Fühlen Sie sich isoliert im Büro, unter Ihren Freundinnen und Freunden? In der Familie? Unverstanden? Nicht zugehörig? Einsam eben?

Glauben Sie, es könnte daher richtig sein, in einen der einsamsten Landstriche der Welt zu reisen, um Ihrer Einsamkeit auf die Spur zu kommen oder gegen sie anzukämpfen? In ein Land aufzubrechen, nach Irland, in dem sich mehr Menschen als überall sonst in der EU einsam fühlen, jeder Fünfte nämlich?

Sie wären in guter Gesellschaft, denn viele tun genau das: Menschen aus Dublin und Georgia, aus Cambridge und Bern, die von Tinder die Schnauze voll haben oder ihren Depressionen entfliehen wollen. Menschen, die anders sind als Sie und ich, aber die – so ist die globale Welt – genauso fühlen.

Die Wiesen im Westen von Irland sind nass-grün, die Strassen voller Löcher. Man fährt meilenweit vom einen ins andere Dorf, dann, plötzlich, der blauschwarze Atlantik, die Cliffs of Moher ragen in den Himmel. Steilklippen, weltbekannt, neben der geselligen Guinness-Brauerei, der Sehenswürdigkeit schlechthin in Irland. Steilklippen, zu denen es Menschen zieht, die nur sich und die Natur fühlen wollen, Wanderinnen über dem Meer, die zu sich selbst reisen – die eine Seite der Einsamkeit.

Steilklippen, die aber auch dafür bekannt sind, dass sich Menschen in den Tod stürzen, weil sie nicht einmal sich selbst fühlen und ins Jenseits reisen – die andere Seite der Einsamkeit.

AODH, 47
Vor diesen Steilklippen grasen Kühe und Schafe. Sie gehören Menschen wie Aodh, rotbärtig, Flanellhemd, Jeans, er hat eine Farm, züchtet Tiere. Heute ist es, er ist als Bauer natürlich Frühaufsteher, spät geworden, halb eins, Donnerstagnacht. Aodh sitzt elf Kilometer von den Cliffs of Moher in einem Pub namens «Ritz» in einem Ort namens Lisdoonvarna.

Von den Cliffs zu stürzen, das sei ihm noch nie in den Sinn gekommen. Aber er kennt Menschen, die das taten, wie fast alle hier sie kennen, manchmal heissen sie Mary, manchmal John oder Paul. Er sei nur hier wegen ein paar Pints, sagt Aodh.

Im Laufe der nächsten Stunde wird sich herausstellen, das ist eine Lüge. Aodh, der aussieht, als spielte er Gitarre in einer verschrobenen Folkband, fühlt sich nämlich einsam. Deswegen sitzt er im «Ritz». In seinem Heimatörtchen, eineinhalb Autostunden von Lisdoonvarna entfernt, leben einhundert Menschen. In den zwei Pubs, die es dort gibt, hätten sie bestimmt auch ein paar Pints für Aodh, was sie allerdings nicht haben, sind: Frauen.

In seinem Dorf seien alle Frauen weg, erst aufs College gegangen, nach Dublin, später vielleicht nach London, Sydney oder Christchurch weitergezogen. Für Aodh zählt nur eines: Sie sind nie wiedergekommen. Er dagegen, der gegenüber seiner Familie, seiner Heimat und seinen Schafen loyal bleiben will, ist geblieben.

Lisdoonvarna, der Ort des Geschehens, besteht im Kern nur aus einer Strasse, der Main Street. An ihr reihen sich ein paar Pubs, eine Kirche, eine Tankstelle, ein Supermärktchen und diverse Läden aneinander. Auf den Strasse trifft man Menschen, die mit ihren Arbeitergesichtern aus einer Martin-Parr-Fotografie gehüpft sein könnten, während ihre zu Teenagern herangewachsenen Kinder versuchen, ihr Gegenüber mit ihren ersten Hormonschüben zu beeindrucken.

Der Alltag im Monat meines Besuchs, im September, ist schillernder; manche der Arbeiter tragen zu dieser Zeit Tanzschuhe oder ihr bestes Hemd. Sie treffen in den vier Wochen auf Tausende Touristen und Touristinnen aus Irland und der ganzen Welt. Denn in diesem kleinen Dorf findet wie jedes Jahr um diese Zeit das Lisdoonvarna Matchmaking Festival statt. Das ist laut BBC das grösste Festival dieser Art und seit 1857 in Irland verankert.

Früher traf sich in Lisdoonvarna der Adel, um zusammenzufinden; später die Vorfahren von Aodh, Bauern, die, nachdem sie die Ernte eingebracht hatten, nach Lisdoonvarna reisten, um eine Frau zu finden.

Hundertsechsundsechzig Herbste später gibt es in Lisdoonvarna zwei Wege, das zu tun. Entweder man geht auf den bekanntesten Matchmaker Irlands zu, Willie Daly, und versucht, sich verkuppeln zu lassen – oder man hängt wie Aodh, er ist Romantiker, in einem der Pubs und Tanzsäle ab.

Aodh meint, dass all die einsamen, irischen Bauern nette, sympathische Männer seien, die zwar eine gute Beziehung zu ihren Schafen, Kühen und Hunden hätten, aber eine Frau, die träfen sie nie. «Never, never», sagt er.

«Wie fühlt sich das an, Aodh?»

«Wie eine kalte Bettdecke nachts», antwortet er.

Das ist der Moment, in dem Aodhs Lüge in sich zusammenkracht und er gesteht, in seinem Leben noch nie eine Frau geküsst zu haben.

Sie tun gut daran, sich nicht einsam zu fühlen. Einsamkeit lässt nämlich nicht nur Schafzüchter wie Aodh grübeln, sondern stürzt Menschen in Depressionen und von Klippen, lässt ihr Herz aufhören zu schlagen und Tumore entstehen. Kurz: bringt sie um. Manche, die mehr Glück haben, bekommen nur Rückenschmerzen davon.

Einsamkeit, das erklärte die Weltgesundheitsorganisation Mitte November, sei ein globales Gesundheitsproblem und so schädlich wie das Rauchen von fünfzehn Zigaretten pro Tag. Eine tödliche Epidemie, aber wir hören nur wenig davon. Warum?

Eine Antwort gibt ein Blick auf Ruth Westheimer, ja, die legendäre Sextherapeutin, die kürzlich zur Einsamkeitsbotschafterin New Yorks ernannt worden ist. Westheimer fühlte sich in Corona-Zeiten schmerzlich einsam. Ein Gefühl, das sie an ihre Jugend in der Schweiz erinnerte. Damals, 1939, schickten sie ihre jüdischen Eltern in Deutschland mit einem Zug von Frankfurt – Flucht vor den Nazis – nach Heiden im Kanton Appenzell Ausserrhoden. Erst besuchte sie dort das vom Israelitischen Frauenverein Zürich geführte Kinderheim Wartheim, später die Haushälterinnenschule in Herisau.

In dieser Zeit schrieb die 17-jährige Ruth in ihr Tagebuch: «Ich lebe inmitten von 150 Menschen – und bin allein.» Ein Dreivierteljahrhundert später erinnerte sich die mittlerweile zur Ikone gewordene Dr. Ruth Westheimer – deren Vater in Auschwitz ermordet wurde und deren Mutter verschollen ist – an diese Zeit und stellte fest, dass es uns genauso schwerfällt, über unsere Sexualprobleme zu reden wie über unser Gefühl der Einsamkeit. Beides, sagt sie, sei mit Scham besetzt. Auch der britische Minister für Einsamkeit – Ministerien dieser Art gibt es mittlerweile auch in Japan und Dänemark – sagt, das Thema Einsamkeit sei von einem Stigma umgeben.

«Ich habe abgetrieben» oder «Ich habe ein Burnout» – diese Sätze gehen uns einfach über die Lippen. Doch den simplen Satz zu sagen: «Ich bin einsam», das trauen wir uns nicht – und das ist der Grund, weswegen Aodh mich im Pub anlog.

EMMA, 28
Ein paar Tage nachdem ich Aodh kennengelernt habe, sitzt mir Emma gegenüber – die darum bittet, einen falschen Namen tragen zu dürfen. Sie, eine Schwedin aus Stockholm, ist zufällig im gleichen Bed and Breakfast zu Gast. Wir mögen uns auf Anhieb. Ich frage sie, was sie ins irische Nichts geführt habe, in dieses Steinhaus, meilenweit vom nächsten Ort entfernt, in das Menschen ziehen, um ihre Akkus aufzuladen. Wir blicken in diesem Moment aus der Küche in Richtung Meer.

Emma erzählt, sie sei fünf Jahre in der schwedischen Armee gewesen. Sie zog es in die Armee, weil ihr eine Ordnung im Leben wichtig war. Doch je länger sie dort arbeitete, desto mehr befremdete sie das Militär.

Sie nahm erst die kleinen Anzüglichkeiten wahr, dann die sexuellen Übergriffe; zuletzt war sie in einer afghanischen Militärbasis stationiert, wo ihre Kollegen auch die lokale Bevölkerung erniedrigten. In ihrer Einheit war sie die einzige Frau unter Dutzenden von Männern. Einen Verbündeten glaubte sie unter diesen Männern zu haben, ihren Freund. Doch spätestens mit der Corona-Pandemie merkte sie, dass auch ihr Freund nur einer dieser Männer war.

Sie zog sich zurück, auch weil sie in dieser Zeit bereits isoliert lebte, Kontakte zu Afghaninnen durfte sie nicht eingehen, der Militärstützpunkt war nach Geschlechtern getrennt: dort die Männer, sie die einzige Frau.

«Ich war einsam», sagt sie. Sie sei in eine Depression gefallen. Zurück in Schweden, mittlerweile vom Freund getrennt, bemerkte sie nicht nur eine grosse Trauer in sich, sondern auch jede Menge Wut.

Vor ein paar Wochen spürte sie zum ersten Mal wieder so etwas wie Zuversicht und überlegte sich, Medizin, Anthroposophie oder Philosophie zu studieren. Um sich darüber klar zu werden und den verbliebenen Burnout-Rest über die Cliffs of Moher zu stossen, reiste Emma nach Irland. Als sie auf der Insel ankam, mietete sie ein Auto, kaufte eine Flöte und reist nun zu sich selbst. Weil sie von Willie, dem Matchmaker, gehört hatte, der schon über dreitausend Paare verkuppelt haben will, entschied sie sich für unser kleines Haus nahe Lisdoonvarna. Sie möchte sich nach dem Frühstück zu ihm aufmachen. Ein irischer Bauer, warum nicht?

WILLIE DALY, 80
Als Emma in die Küche des Matchmakers tritt – die als museal zu bezeichnen ist, Fotografien der Ahnen von Willie hängen wild durcheinander, Madonnen und Jesusfiguren treffen die Blicke von John F. Kennedy oder Marilyn Monroe –, sitzt dort bereits Andrew Collins bei einem Schwarztee mit Whiskey. Er sagt, ich solle ihn wie alle nur Andy nennen.

Später wird Andy sagen, er sei unter sechzig, doch in Wahrheit hat er die siebzig Jahre weit überschritten. Der Bauer – kürbisgrosses Gesicht, untertassengrosse Ohren – ist jenseits dieser kleinen Mogelei ein warmherziger Mann. Zu Emma sagt er, er sei zufällig hier, eine Frau suche er nicht. Er sagt das, als Willie, der Matchmaker, das Zimmer verlassen hat. Und als Willie zurück in die Küche kommt, er hat Andrews Sätze nicht gehört, sagt der Matchmaker, er habe zwei passende Frauen für ihn. Auch Andys Lüge, aus Scham gebaut, fällt in sich zusammen, in Wahrheit sucht er wie Aodh das Ende der Einsamkeit.

Willie schiebt Andys ausgefüllten Fragebogen – er möchte stets Alter, Geschlecht, Interessen, Hobbys und die Telefonnummer wissen – in sein Lovebook. Schon sein Vater Henry und dessen Grossvater William Daly sollen dieses Buch benutzt haben. Willie ist Matchmaker in mindestens dritter Generation. Das Lovebook ist ein zwischen Lederlappen festgezurrtes Papierkonvolut, das sich gut in einem Harry-Potter-Film schlagen würde. Das Buch ist angeblich hundertsechzig Jahre alt.

Dann klingelt sein ungefähr ebenso altes Alcatel-Handy, nicht internettauglich, +353-87-6712155. Einsame Menschen, die diese Nummer anrufen, werden unsere Gespräche in den nächsten Tagen immer wieder unterbrechen. Seine Küche ist die Herzkammer seines Schaffens, hier liest er die Briefe von Singles aus aller Welt und teilt anderen deren Nummer mit. Willies Matching-Algorithmus ist sein Bauchgefühl.

Ob er sich ab und an einsam fühle, frage ich ihn.

«Ja.»

«Wie gehst du damit um?»

In seinem Leben sei immer viel los gewesen. Er habe sechs Töchter, zwei Söhne, doch alle hätten mittlerweile das Haus verlassen, seine Frau habe sich von ihm getrennt. «Ich finde den Winter hart», antwortet er.

Im September sitzt er fast jeden Tag im «Rathbaun», im «Ritz» oder in der nach ihm benannten Matchmaker-Bar, legt sein Lovebook auf den Tresen, bestellt ein Wasser, und immer wieder kommen Menschen zu ihm. Allen reicht er anfangs die Hände, irgendwann sagt er dann: «Hast du schon Amanda kennengelernt, John?» Dieser Satz – die Namen wechseln natürlich – ist Willis Zauberspruch. Mit ihm bringt er zwei Unbekannte ins Gespräch. Und nachdem er ihn fallen gelassen hat, entschwindet er.

ANDREW, 73
Es ist Abend geworden, Andy, der Bauer aus der Küche von Willie, versuchte den Matchmaker zu erreichen, hatte aber keinen Erfolg. Nun sitzt er allein an seinem Tisch in Lisdoonvarnas «Roadside Tavern», isst irischen Schinken mit Weisskohl und gestampften Kartoffeln und wartet auf Willies Rückruf. Zuvor war Andy, der nach Stall, Schafen und – ich sage das nicht gern – scharf nach vergorener Milch und Harn riecht, schon zwischen den zwei Kathedralen des Matchmaking-Festivals, dem Pub im «Rathbaun» und dem «Ritz», hin- und hergewandert, sass hier wie dort allein am Tresen. Im Gegensatz zu Aodh benötigt Andy die Hilfe des Matchmakers Willie.

Er brauchte diesen einen kleinen Satz Willies: «Hast du denn schon Wilma kennengelernt, Andrew?», ein wenig Zauber also. Und Andy brauchte eine Wilma oder Ana, die mit Bauern wie ihm aufgewachsen ist, die weiss, da steht nicht nur ein streng riechender, sondern vor allem ein gutherziger Mann vor ihr. Nach ein paar ersten Worten würde Andy ihr von seinem Bauernhof in einer Gegend namens Gortlahard erzählen, Grafschaft County Kerry, eine der ärmsten des Landes, alles grünes Nichts, Weideland für Schafe und Kühe, die Quelle irischer Butter.

Während ich mit Lassie, seiner Border Collie, durch Lisdoonvarna laufe, die er mir für eine Runde anvertraut hat und über die Andy sagt, es sei das einzige Wesen, das stets für ihn da sei, denke ich an die britische Studie, laut der fünfzig Prozent der älteren Menschen sagen, dass vor allem zwei Dinge ihnen Gesellschaft leisteten: das Fernsehen und Haustiere. Zu diesen Menschen gehört auch Andy. Er ist ein Einsamkeits-Risikopatient: kinderlos und ohne Partnerin. Als Andy vor fünf Jahren offiziell in Rente ging, gehörte er zu den 624000 Menschen über 65 und den rund 400 000 Menschen in Irland, die allein leben.

«Hat dich Willie angerufen? Hast du ihn gesehen?», fragt er mich zum wiederholten Mal. Willie, der Matchmaker, wird es an diesem Donnerstagabend nicht nach Lisdoonvarna schaffen, Matchmaker-Auszeit. Am nächsten Morgen, gegen zehn, bricht Andy auf zu seinem Hof ,«mit enttäuschter Hoffnung», wie er grummelt. Er wird es schwer haben, eine Frau zu finden, dort, wo er wohnt, kommt eine Frau auf knapp dreissig Männer. Immerhin hat er seine Lassie.

MEGAN, 33
Im «Rathbaun», es ist gerade einmal 15 Uhr, herrscht der ganz normale Wahnsinn, Balzen gegen die Einsamkeit: rund hundert Menschen, die ihre Jugend mit Elvis verbracht haben, das ist den Männern an ihren Tollen und Koteletten anzusehen und den Frauen an ihren geblümten Petticoat-Kleidern, die nach Mottenkugeln riechen. Bevor sie gleich auf der Tanzfläche ihre Kreise drehen, tragen die Frauen noch ein wenig Make-up auf, während die Männer ihre Hörgeräte nach unten regeln. Der Alleinunterhalter, meist am Keyboard, manchmal auch an der Harmonika, spielt seine Schunkel-Klassiker, «Country Roads», «That’s Amore», «Eviva España» – die Senioren-Tanzfläche bebt, alle lächeln sich zu, die Menschen sind hier so sanft wie das irische Guinness.

Am Tresen steht, er trinkt wieder ein kleines Wasser, Willie, vor ihm sein zerfleddertes Matchmaking-Buch. «Marco, schön, dass du da bist. Kennst du eigentlich schon Megan?», sagt er und entschwindet.

Megan und ich sind vermutlich die einzigen Gäste unter siebzig. Megan arbeitet im Marketing eines Kinderbuchverlags und ist aus dem US-Gliedstaat Georgia. Als sie vom Matchmaking-Festival in Lisdoonvarna hörte, dachte sie sich, vielleicht sei es in Irland einfacher, einen Mann zu finden. In Georgia scheiterte sie daran.

Megan beschreibt sich als links und liberal und ihren Gliedstaat, Georgia, als erzkonservativ. Sie fühle sich in ihrer Heimat fremd, einsam unter Republikanern. In Willies Fragebogen schrieb sie hingegen, sie suche einen Mann, der offen sei, der mit ihr reise, neue Dinge lernen möchte, Schlittschuhlaufen und Klettern, jemanden, mit dem sie gemeinsam lesen könne.

Für alle, die von Tinder die Schnauze voll haben: tanzen und balzen in den Bars von Lisdoonvarna.
Am zweiten oder dritten Tag in Lisdoonvarna wird ihr bewusst: Einen Mann zu finden, wird auch hier nicht einfach.

In Willies Küche wurde ihr ein irischer Pferdeschmied und Krabbenfischer, Ende vierzig, vorgeschlagen. Ein Mann namens Henry. Sie dachte erst, er sei einer von Willies gewöhnlichen Klienten, und lehnte ab, weil er ihr zu alt war. Doch Megan liess sich überzeugen, sich mit Henry zu treffen. «Er wäre ein guter Mann für dich», sagte Willie. Im Pub fand Megan heraus, dass Henry einer von Willies Söhnen ist. Sie war geschmeichelt, doch es wollte nicht passen.

JOHN, 69
John, der aussieht wie der verschollene irische Bruder von George Clooney, ist ein Mann, der stets fragt, ob man etwas brauche. John lebt in dem Steinhaus, in dem ich die Woche über mit Emma wohne. Er ist unser Vermieter, der nächste Nachbar ist Hunderte Meter entfernt. Auf dem Weg zu John fährt man durch jede Menge Einsamkeit, und vor seinem Haus schaut man nur auf den Atlantik, drei Inseln und abends auf einen beeindruckenden Sonnenuntergang, der einen denken lässt: Einsamkeit, wie schön.

Ich hatte erst den Eindruck, John sei einsam. Dabei sei das Gegenteil der Fall, antwortet er. Er lebe zwar in der Einsamkeit, aber spüre sie nicht. John ist aktiv, trifft Freunde, abends geht er ins Restaurant und schätzt die Geselligkeit eines irischen Pubs. Aber er sei auch gerne für sich, blicke gern aufs Meer, beschäftige sich mit Pflanzenkunde.

«Was schätzt du an der Einsamkeit, John?»

«Sie gibt mir Ruhe», antwortet er.

ICH, 43
Die Reise nach Irland lässt mich grübeln: Wer in meiner Nähe ist einsam? Meine Mutter? Sie hat sich in den Achtzigern von meinem Vater getrennt. Vor Jahren erzählte sie mir, sie bereue das. Heute fühlt sie sich oft einsam. Ihr Sohn, ich, wohnt Hunderte Kilometer weg, ein spontanes gemeinsames Abendessen ist nicht möglich. Wenn ich meine Mutter anrufe, läuft der Fernseher. Ich fürchte, es ist in kalten Tagen ihr Anti-Einsamkeits-Medikament. Als Sohn habe ich dann das Gefühl zu versagen.

Wer noch? Ein Nachbar, über den alle sagen, er werde im Alter immer verbitterter. Und ich?

In Irland musste ich keinen Moment darüber nachdenken, ob ich einsam bin. Ich wähnte mich in einem stabilen Umfeld. Nach meiner Rückkehr war mein Arbeitsleben plötzlich auf den Kopf gestellt. Ich, in Deutschland geboren, fühlte mich plötzlich einsam, eine wichtige Struktur brach weg.

Ein Bruch im Job ist laut der Einsamkeitsforschung einer der Risikofaktoren, die das Gefühl der Einsamkeit beschleunigen. Andere sind Trennungen, Tod, Krankheiten, das Alter – und die Jugend, weil man sich in dieser Zeit von zu Hause löse.

Mein Körper steht seitdem fast dauerhaft unter Stress. Ich fühle mich nicht mehr nach mir selbst an. Ein Gefühl, das viele Menschen, die auf Phasen der Einsamkeit zurückblicken, teilen – das schreibt Daniel Schreiber in seinem Bestseller «Allein».

Das ist die eine Seite der Einsamkeit, die unfreiwillige, die ungesunde. Die andere Seite der Einsamkeit, die von John, die selbst gewählte, schätze ich auch. In der Woche als sich alles veränderte habe ich mir, von langer Hand geplant, ein Haus in Italien gekauft, Olivenbäume, Weinreben: Hier möchte ich mich ab und an zurückziehen und aufs Meer blicken.

Während ich genau hier sitze, muss ich an eine Zürcherin denken, nennen wir sie Frau Schmid. Die Bewohner des Hauses, in dem sie wohnt, teilen sich eine Waschmaschine. Da Frau Schmid, Mitte fünfzig, fast immer wäscht, manchmal auch nur ein einzelnes Shirt, ist der Waschraum stets von ihr belegt. Ihr Verhalten führte zu Konflikten im Haus. Weder ein Gespräch über Solidarität noch eines über Klimaschutz halfen weiter. Allerdings räumte Frau Schmid ein, einen Waschzwang zu haben, weil ihr das Waschen gegen ihre Einsamkeit helfe.

Ab und an bekommt sie seit dieser Offenlegung nun Besuch. Man trinkt Kaffee zusammen. Haben wir nicht alle eine Frau Schmid in unserem Umfeld? Ist auch die Schweiz eine Insel der Einsamkeit?

Jeder dritte Mensch – mehr als in Irland – fühlt sich einsam in der Schweiz. Frau Schmid gehört dazu – und ich fürchte, ich bin derzeit auch einer von ihnen. Und Sie? Sie am Ende auch?