Süddeutsche Zeitung
Im vierten Anlauf
Als Reinhold Mathy im Frühjahr 1987 die Kabine des FC Bayern München betrat hingen an seinem Spind zwei überkreuz ausgerichtete Fußballschuhe. Auf einem Blatt Papier darunter stand: „Verräter“. Damals war er 25 Jahre alt. Die Mannschaft um Klaus Augenthaler und Lothar Matthäus hatte ihm eine letzte Nachricht hinterlassen. Sie war enttäuscht, sie dachte ja stets, sie könnte von Mathys Talent profitieren.
Erzählt Mathy heute darüber, lächelt er bittersüß, Falten bilden sich auf der Stirn, er nimmt es aber seinen einstigen Kollegen nicht übel, weil er glaubt, „sein Zustand“ wäre damals eine Belastung für das sensible Gefüge einer Mannschaft gewesen. Sein Leben, so sagt er, war in einer „grauen Phase“ verhaftet. In einer Phase, die zu definieren den Profisportlern von heute leichter fällt, weil das Thema bekannter ist. Mathy war wohl der erste Fußballprofi, der zugab: „Ich kann nicht mehr.“ Der Fußball, der Druck machte ihn krank.
Mathy galt 1979 bei seinem Wechsel von seinem Heimatverein FC Memmingen aus dem Allgäu in die Jugend des FC Bayern als das größte deutsche Fußball-Talent, als Verheißung. Mathys Aufgabe war es – die Münchner Klubchefs waren sich da einig – Karl-Heinz Rummenigge zu beerben. Mit 19 Jahren stand Mathy bereits in der Startformation des Landesmeisterfinales gegen den Premier-League-Klub Aston Villa. Er nennt diesen Zeitpunkt seiner Karriere eine rosa Phase, eine, in der alles möglich erschien. Matthäus sagte damals über Mathy, er könne einem „Knoten in die Beine“ spielen, Rummenigge sah Mathy nach seinem Wechsel 1984 zu Inter Mailand als „künftigen Dreh- und Angelpunkt der Mannschaft“.
Reinhold Mathy – heute 49 Jahre alt, kein Länderspiel – sitzt jetzt dort, wo sonst niemand sitzt, im Nebenraum der Pizzeria Krone in Mindelheim und sagt: „Ich war nie eine gefestigte Persönlichkeit.“ Keiner, der bereit war, seine Ellbogen einzusetzen. „Kein Augenthaler, kein Matthäus.“ Ein Zweifler, dessen Kopf dafür verantwortlich war, nicht den gegnerischen, sondern den eigenen Füßen Knoten in die Beine zu knüpfen. „Ich war 25, meine große Zeit sollte eigentlich noch kommen.“ Aber noch heute, sagt er, sei er ein Mann, der sich zu viele Gedanken über sich und das Leben mache. Dann sagt er, dass es in diesem vier Phasen gab. Schwarz war die bedrohlichste. Diese sollte aber erst 2009 zuschlagen.
Die graue Phase 20 Jahre zuvor ist deswegen nicht schwarz, sondern grau, weil es so aussah, als ob Reinhold Mathy im Sommer 1986 das mittlerweile verliehene Prädikat „ewiges Talent“ abstreifen konnte. Weil er sich laut einem SZ Bericht von damals in einer „ausgezeichneten Verfassung“ befand, die er einen Monat später im Landesmeister-Pokal gegen Eindhoven mit zwei Toren krönte, als er die Bayern im Alleingang zum Sieg schoss. Wenige Tage später hakte aber der Kopf wieder, und, im September 1986, brach Mathy im Bremer Weserstadion zusammen. Er musste ins Krankenhaus eingeliefert werden – Virusinfektion, vermuteten die Ärzte.
Ob das wohl mit der Erkältung zwei Wochen zuvor zu tun hatte? Mathy grübelt über die Gründe noch heute und fährt sich mit seiner Handfläche über sein Gesicht. Dann sagt er: „In dem Moment war es ein Kreislaufkollaps, aber insgesamt ein Burn-out“. Er habe sich plötzlich geistig wie seelisch leer gefühlt. „Mir war klar, meine Karriere ist beendet.“
Ein paar Wochen später versuchte er ein halbherziges Comeback bei einem Europapokalspiel in Wien, ging aber bei seinem bisher letzten Auftritt für die Münchner nach sieben Minuten, eine Muskelzerrung vorgebend, vom Platz. Mathy: „Mir war elend, und mir flatterten die Nerven.“ Ein Verhalten, das Libero Klaus Augenthaler einfach nicht versteht: „Da beiß ich doch auf die Zähne und kämpf mich durch.“ Im November 1986 ließ er sich dann nach sieben Spielminuten im Europacup-Achtelfinale gegen Austria Wien auswechseln. Er wusste auf dem Feld nicht mehr, wo er stand. In seinem Kopf rauschte es. Er wollte nur raus. Udo Lattek, sein Trainer, schüttelte bei der Auswechslung den Kopf.
Und die Fußballbühne, von der er eigentlich in diesem Moment abtrat, obwohl er noch bis 1993 bei Vereinen wie Bayer Uerdingen oder Hannover 96 „durchhielt“ (Mathy), reagierte roh und zynisch. Immer wieder litt Mathy an Verletzungen, mal machte sein Körper nicht mit, mal war es seine Seele. Seine Ausfälle wurden für sein Umfeld und für die Öffentlichkeit immer unverständlicher. Seine Mitspieler beim FC Bayern hingen besagtes Paar Schuhe auf, die Presse war boshaft, sogar die linke taz schrieb, Mathy sei der „allererbärmlichste Vereinsangestellte“. Die Fans meinten endgültig – Talent hin, Talent her – Mathy sollte man ausmustern, fallenlassen. Das war der Tenor. Die Begrifflichkeiten, die der Boulevard Mathy verpasste, bleiben besser unerwähnt. Die SZ schrieb noch Jahre später von der „Mathysierung des Fußballs“, dann, wenn ein Spieler, etwa Andi Möller, im Auge des professionellen Betrachters als zu sensibel für den Fußball erschien.
Dem langjährigen Manager Uli Hoeneß aber war der allgemeine Tenor egal. Er überredete Mathy, nicht zu kündigen, überzeugte ihn, es noch einmal zu versuchen. Mathy nahm eine zweite Auszeit, las Lebensratgeber, ging spazieren und suchte auf Hoeneß’ Rat einen Psychologen auf. „In diesen Sitzungen redeten wir nicht über mein Privatleben, sondern nur darüber, wie man einfacher Fußball spielt. Das war aber nicht mein Problem. Meines war die Leere.“ Antidepressiva bekam er keine. Aber die Auszeit half. „Für Bayern bin ich dennoch untragbar geworden.“
Trotz seiner Labilität unterschrieb Mathy im Sommer 1987 in Uerdingen. „Über meinen Zustand wusste nur Uli Hoeneß Bescheid“, sagt er. Mit 32 Jahren hat er dann – nach 178 Bundesligaspielen und vier Meisterschaften – seine Karriere beendet. Es war wieder „zu belastend“, zu grau geworden.
Nach seiner Zeit als Spieler arbeitete er zunächst als Trainer, etwa beim Regionalligisten FC Weismain, und bildet in Swasiland und Kambodscha selbst Trainer aus. 2001 nahm er das Angebot des tunesischen Fußballverbandes an, Nationaltrainer Eckhard Krautzun an der Seite zu assistieren. Das Duo qualifizierte sich für die WM 2002, doch es kam zu einem Clinch mit dem tunesischen Sportminister, der den beiden daraufhin kündigte. Durch einen Zufall lernte Mathy dabei einen Spielerberater kennen – er entdeckte einen neuen Beruf für sich und arbeitet heute als freier Spielerberater für die Agentur Pro Profil, die auch Manuel Neuer unter Vertrag hat.
Im Jahr 2009 allerdings begann Reinhold Mathys schwarze Phase, er ließ – mit der Unterstützung seines Chefs – seinen Job ruhen. Seine Partnerin hatte sich von ihm getrennt. „Ich dachte an Suizid, hatte Zukunftsängste, wusste keinen Ausweg mehr“, sagt er. Der Fußball brachte ihn nicht um,aber die Liebe beinahe. Er ließ sich im Klinikum Memmingen stationär behandeln. Zuerst für drei Monate. Heimkehr. Rückfall. Das zweite Mal war er vier Monate dort. Während der Gespräche sei ihm bewusst geworden, dass der Auslöser seiner Traurigkeit wohl der Tod einer frühen Bezugsperson, seiner Oma war. Mathy machte sich daran, „das aufzuarbeiten“.
Gerade nimmt Reinhold Mathys Leben einen weiteren Anlauf, den vierten. Neben seiner Arbeit als Berater – unter anderem ist er für Manuel Schäffler von 1860 München zuständig – trainiert er die E-Junioren des FC Mindelheim. Mathy glaubt, dass er heute als Profi eine größere Chance hätte, weil diese besser psychologisch betreut würden. Und weil er weiß: „Ich bin eingestellt.“ Er meint nicht auf ein Fußballspiel, er meint die Tabletten, die Antidepressiva, er meint sein Leben. Zudem habe er zu Gott gefunden, nahezu täglich betet er in der Freikirche Paulus-Gemeinde. Dadurch fiele ihm sein Leben leichter. Heute sehe er dieses übrigens gelb gefärbt. „Munter gelb“, sagt er. Durch die Medikamente habe er seit 2009 aber kräftig an Gewicht zugelegt, etwa 25 Kilo lasten auf ihm. Das bedrücke ihn momentan ein wenig. Phase vier läuft. Marco Maurer