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Ist das Kunst, oder kann ich weg?

Unser Autor hat ein Gemälde ersteigert, versteht es aber nicht. Er gibt sich ein Jahr Zeit, die Welt der Kunst zu begreifen, auf allen erdenklichen Wegen.

Hätte ich mich nicht vor einem Jahr mit einem Freund getroffen, wären wir nicht von Bar zu Bar gezogen, hätten wir nicht mehrere Whisky Sour zu uns genommen, hätte ich nun kein Problem. Doch seit diesem Abend habe ich eines: Ich besitze Kunst, richtige, wahrhaftige Kunst. Als solche wurde sie mir zumindest verkauft, für 1800 Euro.

Ein Bild namens „Inter Hermannplatz“, Material: Öl auf Leinwand, Größe: 1,10 Meter auf einen Meter, knallbunt, abstrakt, es hängt seither über meinem Sofa.

Das Problem: Nun blicke ich auch auf ein großes Fragezeichen. Denn ich habe keinen blassen Schimmer von Kunst.
Rückblende, das Jahr 2015 verlief katastrophal, eine Liebe zerbrach, alle Abende endeten unweigerlich an der Bar. Als es mir einmal ähnlich schlecht ging, mich meine erste Liebe verlassen hatte, kaufte ich mir etwas, das ich weder heute noch damals brauchte: ein Cabrio. Meine damalige Exfreundin stand auf Lederjacken und schnelle Autos. Mir waren Autos nie wichtig gewesen, plötzlich hatte ich trotzdem eines. Damals schwor ich mir, nie wieder solche Verlustkäufe anzustellen.
Mit dem Erwerb des Bildes hatte ich es wieder getan. Allerdings war ich etwas nachhaltiger, weil ich mir etwas zulegte, das ich immer haben wollte: moderne Kunst. Schon mit zehn hatte ich meine Mutter gezwungen, einen Baumarkt-Picasso zu kaufen. Woher dieser Wunsch kam, kann ich nicht mal erahnen.

An der Bar trafen sich also das Momentum Liebeskummer, der langjährige Wunsch nach echter Kunst und der nötige Alkoholpegel, sich diesen zu erfüllen. Ich drückte auf dem Handy „Senden“ – und las die Antwort der Onlineversteigerer: „Glückwunsch! Für dieses Werk sind Sie Höchstbietender.“

Ein paar Tage zuvor hatte ich das Bild auf einer Vernissage im Hamburger Kunsthaus gesehen, Freunde hatten mich mitgenommen. Es hing zusammen mit anderen Bildern an enorm hohen Wänden. Menschen, bis auf die weißen Sneaker vorwiegend in Schwarz gekleidet, schlenderten an den Werken vorbei. Die Namen der Künstler sagten mir alle nichts. Jonathan Drews. Jorinde Voigt. Titus Schade. Alexander Iskin. Sie gehörten, so hieß es, zu den spannendsten neuen Künstlern Deutschlands. Ehrlich: Ich fand alle Bilder schrecklich. Bis auf eines.
In den Wochen nach dem erfolgreichen Gebot freute ich mich immer, wenn ich zu Hause ankam. Ich war wie verknallt. Auch weil es dort durch die Ölfarben wie in einem Atelier roch. In meinem Singlehaushalt lebte plötzlich jemand Zweites. Allerdings fiel mir auch auf: Ich verstand das Bild nicht. Klar, ich habe den üblichen Kunstunterricht gehabt, gehe ab und an in ein Museum und weiß, wer Damien Hirst oder Niki de Saint Phalle sind. Dennoch musste ich mir eingestehen: Mein Kunstverständnis ähnelt meinem Social-Media-Verhalten – „gefällt mir“, „gefällt mir nicht“ .

Plötzlich war mir das zu wenig, ich wollte wissen: Wann ist Kunst Kunst? Und vor allem: Ist es mir möglich, sie zu verstehen? Ich wollte sie lesen können wie ein Fußballspiel. Da kann ich schließlich auch einen Klopp von einem Guardiola unterscheiden. Ich beschloss, mich ein Jahr lang in der Kunstwelt zu bewegen.

Eines Sonntagmorgens, ein paar Wochen nach meinem Kauf, laufe ich mit 20 anderen durch das Foyer des Frankfurter Städels, eines der bedeutendsten deutschen Museen. All diese Menschen interessieren sich neuerdings für Moderne Kunst. Allerdings trennen die restlichen Teilnehmer und mich gut 30 Jahre; „Kinderstunde XS“ heißt die Führung, die Kinder erstmals mit Kunst in Kontakt bringt. Ich habe beschlossen, klein anzufangen.
„Was ist Kunst?“, fragt uns die Kunsthistorikerin, die uns durch die Ausstellungsräume führt. „Etwas Gemaltes“, antwortet ein Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt. „Muss es gemalt sein?“, fragt die Museumsangestellte, als wir vor einer Ansammlung bunter Gegenstände, die flächig auf dem Boden ausgelegt sind, haltmachen. „Ja“, sagt das Mädchen. „Das ist dann keine Kunst?“ – „Nein, das ist Mülldingsda“, antwortet das Mädchen und blickt verächtlich auf die kaputten PVC-Flaschen, Spielzeugschaufeln und Wasserpistolen, die nach Farben geordnet wie eine Regenbogenflagge vor uns liegen.
Uns wird erklärt, dass der Künstler diesen Müll am Strand gefunden und sortiert habe und dass er damit auf die Folgen unseres Konsums hinweisen möchte. Es sei ein Plastikmosaik, das Elemente der Malerei und der Collage enthielte. Die Kinder rätseln nun, ob das 1979 entstandene Werk „wie ein Fußboden voller Legosteine“ oder „geordneter Müll“ sei; eine ähnliche Frage stelle ich mir heimlich auch, mein Kunstverständnis liegt also nahe an dem von Fünfjährigen.
„Viele Erwachsene denken bei dem Werk eher an Müll als an Kunst, trauen sich aber nicht, das zu sagen, weil es peinlich sein könnte“, sagt mir eine Stunde später Chantal Eschenfelder. Sie ist die Leiterin „Bildung und Vermittlung“ des Städel Museums, hat Kunstgeschichte in München und in Paris studiert und sieht aus, wie ich mir eine Kunsthistorikerin vorstelle. Sie trägt ein dickes Brillengestell und ein schwarzweißes Kleid, auf dem Quadrate vorgaukeln, sie wären Linien. Hinge ihr Kleid im Louvre, dürfte es als Kunst durchgehen. Eschenfelders Aufgabe ist es, Menschen wie mir den Zugang zu Kunst zu erleichtern. Ich frage sie nach einer Anleitung, wie ich mich einem Bild nähern soll. Das sind ihre Tipps:
1. Das Werk unvoreingenommen, lange und intuitiv anschauen.
2. Benennen, was einem am deutlichsten auffällt.
3. Dem Bild Fragen stellen.
4. Wenn einen das Bild interessiert, seinen Kontext erkunden.

Nach meiner Rückkehr setze ich mich auf einen Hocker und starre mein Bild eine ganze Stunde lang an. Dabei wende ich den städelschen Aufgabenkatalog an, eine Zen-Übung im Betrachten von Kunst sozusagen. Ein durchschnittlicher Museumsbesucher blickt elf Sekunden lang auf ein Bild, dagegen ist mein Experiment eine kleine Ewigkeit. Im Ohr habe ich einen Satz von Frau Eschenfelder: „Wer ein Werk verstehen will, muss es in seine Einzelteile zerlegen.“
Als ich das Bild wirken lasse, fallen mir erstmals verschiedene Dinge auf: Ich glaube, zwei Personen zu erkennen. Eine davon hat einen Fuß mit drei Zehen (lackiert) und Brüste (75B). Die andere Figur deute ich eher männlich. Ich sehe eine Drehbewegung und nackte Haut, nehme ein Durcheinander, aber auch eine gewisse Struktur wahr. Haben die Figuren vielleicht über meinem Sofa Sex? Nach 30 Minuten trete ich näher ans Bild und erkenne, dass es auf Jute gemalt ist. Dann beende ich erschöpft mein Experiment und beschließe, Alexander Iskin zu kontaktieren, den Künstler selbst.

Zuvor nehme ich eine Woche lang an einem Kunstkurs des Städels teil. Er verspricht: „Moderne Kunst sehen und verstehen lernen“. 250 Werke, 184 Künstlerbiografien, 57 Kunstströmungen, 543 historische Ereignisse – insgesamt 40 Stunden verbringe ich vor meinem iPad – es ist ein Onlinekurs. Danach kann ich einen Monet von einem Manet unterscheiden und kenne diverse Kunstmanifeste. Bei Begriffen wie Fauvismus, Futurismus, Suprematismus komme ich allerdings ins Schleudern und fühle mich wie früher vor Matheklausuren. Zwar bin ich vollgestopft mit Informationen, aber das große Ganze bleibt mir verschlossen.
Immerhin, als ich das Bild über meinem Sofa betrachte, glaube ich, Einflüsse von Francis Bacon zu erkennen: ähnlich verwendete Farben, figurative Abstraktheit. Mir klingt ein Satz des Onlinekurses nach: „Die Bedeutung eines Werkes ändert sich mit dem, was wir darüber wissen.“
Galerie Sexauer, Berlin-Pankow. In einem graubraunen Fabrikgebäude tummeln sich rund 200 Menschen, gleich beginnt eine Vernissage. Ein Typ – schwarzbraune Haare, drahtig, unrasiert – kommt auf einer rosa Vespa vorgefahren und trägt eine knallbunte Polyesterhose, auf der Snoop Dogg prangt, vielleicht der Schrägste unter den Schrägen hier, er erinnert mich an Michael Jackson, ist aber Alexander Iskin. Ein junger Berliner Nachwuchskünstler, über den eine ZDF-Kultursendung sagt, er gelte als absolutes Ausnahmetalent der Malerei. Die „taz“ schreibt, Iskin und seine Kunst müsse man ernst nehmen. Er selbst stellt sich als Alexander vor und führt mich herum. Wir betrachten zusammen die Bilder eines Kollegen, ich kann sie trotz meines 40-Stunden-Kurses nicht deuten, aber sie lösen eine Empfindung in mir aus: Ich finde sie abgrundtief hässlich.
Wir ziehen uns in einen nicht öffentlichen Bereich der Galerie zurück. Er lässt mich wissen, dass ich Glück gehabt hätte, der Wert eines Bildes von ihm in dieser Größe liege sonst bei über 5000 Euro. Als ich ihn auf mein Projekt anspreche, sagt er: „Ich weiß selber nicht, was Kunst ist.“
Bereits die Kunsthistorikerin im Städel hatte gesagt: „Ich würde von mir nicht behaupten, dass ich jeden Aspekt eines Kunstwerks verstehe. Ihre Aufgabe könnte Sie überfordern, Herr Maurer. Kunst ist wie ein Universum, das sich nicht bis ins Letzte erklären lässt.“
Im Hinterzimmer dieses Berliner Ateliers zweifle ich nun wirklich an meiner Mission. Vor allem als ich, während Alexander mit einem Sammlerpaar spricht, in einem Akt der Verzweiflung die drei Wörter „Kunst“ , „verstehen“ und „Zitate“ google und lese: „Jeder möchte die Kunst verstehen. Warum versucht man nicht, die Lieder eines Vogels zu verstehen? Warum liebt man die Nacht, die Blumen, alles um uns herum, ohne es durchaus verstehen zu wollen? Aber wenn es um ein Bild geht, denken die Leute, sie müssen es ‚verstehen‘ .“ Durch meine Internetsuche begreife ich, dass vor fast einem Jahrhundert jemand mein Scheitern voraussagte: Picasso.
Verkatert von diesem frustrierenden Moment treffe ich mich einige Tage darauf mit Alexander in seinem Atelier, einem rund 300 Quadratmeter großen ehemaligen Speditionsbüro in Berlin-Mariendorf. Als er die Tür öffnet und ich ihn in seinem karierten Bademantel sehe, kommt mir ein Satz aus dem 40-Stunden-Kurs in den Sinn: „Die Inszenierung der eigenen Person ist ein integraler Bestandteil des Schaffens von Jonathan Meese.“ Kurz: Manchmal ist der Künstler die Kunst. Meese besitzt Bilder von Alexander Iskin und gilt als einer seiner Mentoren.
Auch Alexanders Atelier ist eine Schau: Kaffeebecher, Bierflaschen, Fotos von nackten Frauen, aschenbecherähnliche Gefäße, Tennisbälle, Einweghandschuhe liegen herum, zudem überall: Malutensilien und fertige bis halb fertige Bilder, die meinem ähneln, nur heller sind. Alexander erzählt, zu seinen Einflüssen gehörten Künstler wie Beuys und Bacon. Letzteres vermutete ich ja bereits. Kriege ich doch noch die Kunstkurve?
Alexander kam als zweijähriger Flüchtling aus Moskau nach Deutschland und sagt, das Bild in meiner Wohnung zeige eine Bronzeskulptur auf dem Berliner Hermannplatz, das „Tanzende Paar“. Meine Vorstellung, dass die beiden Gestalten auf dem Bild Sex haben, war nicht ganz falsch. „Warum hast du dieses Motiv gewählt?“, frage ich Alexander. „Der Hermannplatz ist eines der Zentren Berlins: Flüchtlinge, Hipster, Penner, Migranten, Bio-Deutsche, alles da.“ Er sei selber in einem Flüchtlingsheim groß geworden und sagt: „Wir hätten uns damals auch über Hilfe gefreut.“ Mit dem Kauf von Alexanders Bild hatte ich mir nicht nur einen Wunsch erfüllt, sondern der Erlös ging an eine Flüchtlingsinitiative.
Alexander hat eine eigene Kunstrichtung ausgerufen, den „Interrealismus“ . Dessen Ziel sei es, dass der Betrachter aktiv an der Entzifferung der Bilder teilnehme, da jeder von individuellen Erfahrungen beeinflusst ist. „Dein Bild ist ein Einstieg in dich selbst“, sagt Alexander und klingt ein wenig wie eine Figur aus einem Murakami-Roman. Ich solle weitergrübeln. Um mich der Lösung näher zu bringen, wolle er mir eine weitere Aufgabe stellen. Seit unserer Begegnung in der Galerie habe er sich Gedanken über mein Kunstverständnis gemacht: „Du bist so dekomäßig unterwegs“, sagt Alexander. Wir prusten los, der Satz klingt arg gehässig. Wie zum Beleg seiner Deko-These übergibt er mir ein Geschenk: ein frühes Werk von ihm. Auf einem Bogen Papier ist ein Rechteck gemalt, in ihm steht in Lila: „Teil Hitler“. Ich fasse das Bild mit spitzen Fingern an, als würde ich eine faule Tomate aus meinem Kühlschrank entsorgen wollen. Ich finde „Hitler“ weder hübsch noch lustig, weder intelligent noch spannend. Ich denke viel mehr: Mülldingsda!
Beeinflusst durch meinen 40-Stunden-Kurs, muss ich aber auch an Marcel Duchamps Pissoir denken. Der französische Künstler hatte 1917 ein Urinal signiert und es in einer großen Schau in New York ausgestellt. Ich erinnere mich an Frau Eschenfelder, die mir vermittelte, eine bloße Idee als Kunst zu definieren sei auch eine Möglichkeit, Kunst zu schaffen. Trotzdem würde ich mir weder Duchamps Pissoir noch „Teil Hitler“ in meine Wohnung hängen. Ich nehme das Geschenk dennoch artig an, rolle es in eine Tennisballdose aus Alexanders Fundus ein und verlasse irritiert sein Atelier.

Die Fragen werden mehr, nicht weniger, und mir wird klar: Ich brauche richtige Hilfe. Deswegen klingelt ein paar Tage später Tilman Kriesel an meiner Tür, ein sogenannter Art Advisor, ein Kunstberater, der mir am Telefon bereits sagte, eine seiner Aufgaben sei es, Kunst zu vermitteln. „Wenn du sagst, dir gefällt das von dir erworbene Bild, kann ich dir ein paar Brücken bauen, dass du andere Blickwinkel bekommst, die es dir erleichtern, das Bild zu verstehen.“ Mein Amazon-geschultes Ich hört heraus: „Wenn dir das gefällt, gefällt dir auch …“
Tilman Kriesel sieht aus wie der elegantere Bruder des Musikers Thees Uhlmann, ist aber der Enkel von Bernhard Sprengel, dessen Sammlung von Picassos, Chagalls und Co. im Sprengel-Museum in Hannover zu besichtigen ist. „Das Bild hat den Raum schon im Griff“, sagt Tilman, als er in mein Wohnzimmer tritt. „Es wird viele Dinge beeinflussen. “
Es stimmt, ich hatte mich nach dem Kauf gegen einen Fernseher in meiner Wohnung entschieden, das Bild sollte die einzige Fläche an meiner Wand bleiben. Tilman sagt, ihm gefalle das Bild und dass er es durchaus seinen Klienten mitteile, wenn ein Werk nicht seinen Geschmack trifft. „Ich finde die orangefarbenen Flecken cool, weil sie herausstechen gegenüber der Flächigkeit des anderen. “ Außerdem gefallen ihm „die offenen Ecken, das Spiel mit dem Farbauftrag, die gute Komposition und schöne Tiefe. Aber entscheidend ist das, was du drin siehst“, sagt Tilman.
„Ich wüsste gerne, warum gerade dieses Bild nun bei mir ist“, sage ich. „Du hast nicht das Bild ausgesucht, das Bild hat dich ausgewählt“, antwortet er. Oft sei der Kauf von Kunst abhängig von Zufall und einer bestimmten Lebenssituation. Dann tritt er an das Bild und sagt, er erkenne in den Farbspielen des Bildes Züge des abstrakten Expressionismus von Franz Marc oder Paul Klee. „Denn die Aufgabe der Farbe ist hier nicht die gegenständliche Darstellung, sondern der Reiz, der ausgelöst wird.“ Während Tilman spricht, bemerke ich, dass sich langsam um das Bild über meinem Sofa ein abstraktes Netz bildet. Ich sehe rote Fäden, die von Iskin hin zu Francis Bacon verlaufen, andere spinnen sich zu Gerhard Richter und Picasso; nun winden sich erste zu Franz Marc und Paul Klee.
Wir sprechen über Jonathan Meese, Alexander Iskins Förderer: „Man fragt sich, was sieht Meese in ihm?“, sagt der Kunstberater, um die Antwort gleich mitzuliefern: Meese verachtet den Kunstbetrieb, was auch auf Alexander zutrifft. Hat er mir deswegen das Hitler-Bild geschenkt? Ich krame es aus einer Ecke meiner Wohnung hervor, zeige es Tilman, schnell sagt er: „Nicht uninteressant“, Meese hätte schließlich mal bei Performances die Hand zum Hitlergruß erhoben.
„Ist mein Hitler also doch Kunst?“ – „Ja“, antwortet er, „wenn du Meese und Iskin zusammenbringst, wird ein Thema draus: Provozieren durch Hitler. “ – „Ich nehme das nicht ernst!“, sage ich. – „Weil du dich nicht darauf einlässt. Kunst kann mehr als gefallen. Sie darf dich auch inhaltlich beschäftigen. Alles andere ist Design.“ Erneut: der Deko-Vorwurf. Falls Iskin ein richtig gefragter Künstler werden sollte, würden sich für meinen Hitler auch Kunsthistoriker interessieren. „Vielleicht ist dein ,Hitler‘ genau das Bindeglied zwischen Meese und ihm?“
Freitagabend, Berlin-Mitte, Galerie Eigen+Art: Vernissage eines Künstlers namens Karl-Heinz Adler, Freunde des Künstlers und des Hauses, Sammler, wirkliche Kenner sind anwesend – und ich. Tilman hatte mir eine Aufgabe gestellt, ich solle durch die Ausstellungsräume einer Topgalerie gehen und mich fragen, welches Werk ich kaufen würde. Vor der Eröffnung führt mich Judy Lybke durch seine Galerie, einer der bekanntesten Galeristen Deutschlands, er entdeckte in den 80er-Jahren Neo Rauch. Trotzdem sagt auch er: „Ich habe keine Ahnung von Kunst. “ Natürlich kokettiert er. Seine Eltern, ein Zimmermann und eine Buchbinderin, interessierten sich kaum für Kunst. Er ist über Umwege – er war Aktmodell in die Kunstszene – gerutscht und dort geblieben. Als ich Judy von Tilmans Aufgabe erzähle, sagt er: „Der zweite Kauf ist ein anderer, weniger impulsiv.“ Er rate mir deswegen, durch die besten Galerien Deutschlands zu streifen, ein Werk auszuwählen und nach jedem Galeriegang ein Foto des Werks in eine Mappe zu legen.
Nach einem Jahr soll ich die Mappe wieder öffnen, die Arbeiten betrachten und mich fragen, ob sie noch immer auf mich wirken. „Es ist ein Lernprozess über dich selbst.“ Auch er sagt, wie Alexander und Tilman, ein Werk würde ich nur über den Blick in mein Inneres verstehen. Ist es etwa mit Kunst wie mit Popsongs? Auch sie interpretiert man oft im Kontext seines eigenen Lebens. Bin ich der Schlüssel?
Ich schlendere durch die Ausstellung, bleibe stehen bei einem Werk namens „Zwei zerteilte und neu formierte Quadrate“ , Acryl auf Karton, 54,5 auf 20 Zentimeter groß, verschiedene grüne Flächen liegen aufeinander, formieren sich zu einer Einheit, die in meinem Kopf den Eindruck eines New Yorker Wolkenkratzers aus den 30er-Jahren entstehen lässt. Ein Wolkenkratzer aus Karton für 8000 Euro. Trotz des Preises bin ich wieder verknallt. Mein 40-Stunden-Wissen sagt mir: eine konstruktivistische Collage. Weit nach Mitternacht bezirzen mich zwei Galeristinnen: „Wir würden es sofort kaufen. Mit Arbeiten von Karl-Heinz Adler kann man nichts falsch machen.“
Ein Jahr später: Ich öffne die Mappe, schaue mir die 14 Bilder an, die mir während meiner Galeriestreifzüge innerhalb eines Jahres auffielen. Das Adler-Bild gefällt mir immer noch sehr. Ich muss an Tilman denken, der mir vom „Sofa-Test“ seines Großvaters, des großen Kunstsammlers, erzählte. Jedes neue Bild stellte er ein paar Wochen auf sein Sofa. Sprach es nicht mehr zu ihm, gab er es zurück. Löste es noch etwas in ihm aus, behielt er es. Ohne es zu wissen, hatte ich mein Bild auch einem Sofa-Test unterzogen. Es bestand ihn. Nach einem Jahr weiß ich aber auch: Es gibt auch Kunst, über die ich nachdenken muss, die ihre Wirkung durch ihre Haltung entfaltet, ansonsten aber stumm bleibt.
Ich weiß nun, ich bin jemand, der von emotionaleren Werken angesprochen wird. Mir geht es ähnlich wie dem renommierten Kunsttheoretiker Bazon Brock. Der sagte einmal über Kasimir Malewitschs berühmtes Bild, das nur ein ausgemaltes Viereck zeigt: Er sehe lieber einen Busen als ein schwarzes Quadrat.
„Inter Herrmannplatz“ hat mich berührt, weil – erst heute ahne ich das – eine Liebe zu Ende ging und Sprachlosigkeit zwischen zwei Menschen einsetzte, wo sonst Sprache war. Das Bild ersetzte diese Leerstelle, ist besagter Einstieg in mich selbst, wie Alexander murakamite.
Dennoch lernte ich in diesem Jahr, dass es Kunst gibt, die ich mir erst erarbeiten muss. In die Mappe hatte ich auch ein Originalwerk gelegt, „Teil Hitler“. Ich finde es noch immer schrecklich, aber ich schätze in Zeiten des Rechtspopulismus seine Haltung. „Teil Hitler“ werde ich zum Rahmen bringen, das Bild wird der zweite Teil meiner Sammlung sein, Kunst. Ich habe nun einen blassen Schimmer davon.