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Unendliche Geschichten

Mit seinem Magazin „Reportagen“ wagt Daniel Puntas Bernet etwas, das in Zeiten der Printkrise fast verrückt klingt: Er lässt sein Heft in Leinen binden, verzichtet auf Fotos und setzt auf seitenlange Texte. Zu Besuch in seiner Berner Denkfabrik

Daniel Puntas Bernet ist Handlungsreisender derzeit, so wie es sich für einen Geschäftsmann geziemt, der in Sachen Reportagen unterwegs ist. Ein Reporter muss schließlich unterwegs sein. So einfach ist es aber nicht, denn das Wort „Reportagen“ ist im Fall Bernet doppeldeutig. Es ist einerseits die große Disziplin des geschriebenen Journalismus, anderseits seit Oktober 2011 der Name eines Magazins, das genretypisch standesgemäß, also hochwertig daherkommt: leinengebunden und in einem schlichtem, aber grafisch ausgefeiltem Design gehalten. Keine Fotos, nur mehr Grafiken und Illustrationen. Vorweggenommen: eine Freude in Zeiten von journalistischen Printpleiten und ein Kontrapunkt zu manch lieblosen Produkten auf dem deutschen Zeitschriftenmarkt.

Weshalb es verblüfft, dass hierzulande bisher noch kein anderer Journalist oder Herausgeber auf diesen einfachen Nenner gekommen ist: Ein Magazin ausschließlich für Reportagen von Reportageschreibern für Reportageliebhaber. Wer sich jetzt an ein Projekt namens Spiegel Reporter erinnert, dem sei gesagt, das ist schon gut zehn Jahre her und hatte auch nicht diese Anmut. So hieß es im Vorwort der ersten Ausgabe, Reportagen sei für Menschen, die beim Satz „Ich muss dir etwas erzählen“ gebannt zuhören und in fremde Welten entführt werden wollen. Wenn Werbekunden fragen, wer denn die Leser seines Magazins sind, antwortet Bernet bloß: „Leser“. Und: „Für jemanden, der sich ablenken will, ist Reportagen nicht gemacht.“

Im Zug von Zürich nach Bern sitzt an einem Freitagmittag einer dieser Reportageliebhaber, Bernet selbst, weil er Anzeigenkunden generieren will. Bernet hat – er ist schließlich Schweizer, und seine Firma hat ihren Sitz in Bern – in Zürich mit einer Bank verhandelt. „Mein Büro ist der Zug“, sagt er dann, und weil nicht das immer etwas verschlafene Bern die kreative Zentrale der Schweiz ist, sondern Zürich, sitzt er drei Mal die Woche im Zug zwischen beiden Städten, trifft in Zürich Grafiker, Autoren, Vertriebspartner und Werbekunden.

Bernet hat selbst, obgleich er dazu als langjähriger Redakteur der Neuen Zürcher Zeitung in der Lage wäre, noch keine Reportage zu seinen bisher acht erschienenen Ausgaben beigetragen, sein aktives Reporterdasein ruht, er kuratiert bisher vielmehr sein Passionsprojekt, baut es auf und aus. Dabei helfen ihm gestandene Autoren, Journalisten und Literaten. Erwin Koch. Sibylle Berg. Roger Willemsen. Margrit Sprecher. Peter Stamm. Aber auch viele junge, eher unbekannte Autoren. Alle zusammen eint der Hang zum literarischen Schreiben ausgefeilter, zumeist langer und guter Texte. Manche dieser Texthybride aus Literatur und Journalismus würden an anderer Stelle nur Kopfschütteln ernten oder die Aussage, „sehr schön, aber dafür haben wir kein Gefäß“. Gut, dass Reportagen nun Platz für genau diese Geschichten und deren Darsteller bietet, die sonst wenige Plätze haben. In der Rubrik „Die historische Reportage“, fester Teil des Magazins, „schreiben“ für Bernet zudem Nicolas Bouvier, Ernest Hemingway oder etwa Mark Twain: die alten Meister. Eine schlichte, eine clevere Idee.

Bernet ist gelassen, wenn er über Reportagen spricht. Es ist dem Schweizer in jeder Silbe anzumerken, das Magazin soll ein Langzeitprojekt werden, eines, an das er glaubt und eines, mit dem er zusammen mit seinen Lesern alt werden will. Und ein Produkt für Leser, die den Werte-Supermarkt Manufactum eher schätzen als den Discounter ums Eck.

Die Texte kommen unaufgeregt daher, aber fast alle eint, dass der Leser hineingerissen wird – mit Wucht. Etwa „Sarah“, Erwin Kochs verstörende Geschichte über ein leukämiekrankes Mädchen, oder in der aktuellen achten Ausgabe der Text über „die Liebe unter Verbrechern in einem kolumbianischen Gefängnis“, eine leise Geschichte über die Sehnsüchte von Kriminellen. Im aktuellen Magazin finden sich zudem Einblicke in einen Gerichtssaal in Guantanamo oder in ein Fahrradteam aus Ruanda, in dem zwei lange verfeindete Ethnien, Hutu und Tutsi, ihren gemeinsamen Weg erfahren. Geschichten, die bleiben wollen. Geschichten, über die Doris Dörrie neulich bei einer Reportagen -Veranstaltung in München sagte, sie seien „bescheuert“, weil sie anachronistisch seien, in einer Zeit, in der das Heft das Wertvollste von den Lesern fordere: Zeit.

Bernet sagt, es habe „partielle Vorbilder“ für Reportagen gegeben, natürlich den New Yorker , natürlich Foreign Affairs , natürlich das neue Magazin Frankreichs, Feuilleton . Dann erwähnt er sogar noch Hefte in Polen, Indien und Südamerika und wird kurz darauf sagen: „Narrativer Journalismus ist die Zukunft.“

Seine Anfänge als Journalist haben viel mit dem Narrativen und mit der Bahnstrecke zwischen Bern und Zürich zu tun. Sein erster Text handelte von einem Vorarbeiter, der dem Wesen eines Berges so nah war, dass er bei den Bauarbeiten für einen Tunnel, der später die Wegstrecke Bern-Zürich auf unter eine Stunde drücken sollte, einen Einsturz vorwegnahm – die Geschichte über einen Bergflüsterer also. Die NZZ kaufte die Reportage, und Bernet – zuvor Auszubildender bei einem Notar, Devisenhändler, Arbeitnehmer bei einem Tennisvermarkter und „Unterschichtskind aus dem Großraum Bern“ – wurde Journalist und hat sich später auf das Genre spezialisiert.

In den Krisen der vergangenen Jahre fiel Bernet wie so vielen auf, es fehlen nicht nur Geld und Platz, sondern auch Geld und Platz für Reportagen, die teuerste Gattung des Journalismus. „Die Printindustrie machte damals einen orientierungslosen Eindruck. Und in diesem Umwälzungsprozess ist die Reportage ein bisschen zwischen Stuhl und Bank gefallen“, sagt Bernet, mittlerweile in seinem Büro neben dem schmucken Berner Bundeshaus.

Dass der Reportagen -Redaktionssitz sich in der zweieinhalbten Etage eines Gebäudes im Berner Käfiggässchen 10 befindet, kann somit kein Zufall sein. Dass ein Produkt wie Reportagen in der Schweiz entstand, ist auch keiner. Dort wird nicht nur Arbeit im Allgemeinen, sondern auch der Journalismus im Speziellen nicht zuletzt auch besser entlohnt als in Deutschland.

Aber natürlich ist Bernet auch ein Experte auf dem Gebiet der Textart, er sagt, „der Patient, das Genre liegt zwar nicht auf der Intensivstation, aber es geht ihm nicht gut“. Und dann: „Diagnose: überlebensfähig, aber man muss ihn aufpäppeln“, weswegen er die Bemühungen des Reporter-Forums in Hamburg schätzt. Reportagen wolle komplementär zu diesem Forum die Gattung „revitalisieren“. Bisher erlebt er aber eher, dass sich die „derzeitige Verunsicherung der Verleger auf die Schaffenskraft junger Journalisten“ übertragen habe, die deswegen häufig nur mehr Ware von der Stange ablieferten. Und was Reportagen zuallerletzt brauchen könne, sind „Schema-F-Texte“.

Diese Philosophie muss man sich leisten können. Und natürlich stehen Geldgeber hinter dem Projekt. „Keine klassischen Mäzene, die einer Gattung wieder zur Blüte verhelfen wollen, aber auch keine Rendite-Manager, die ihren Einsatz verfünffachen wollen“, sondern eine Gruppe von Investoren, die „wissen, nicht das große Geld verdienen zu können“ aber die „Liebe zum Journalismus“ mitbrächten. Noch sei man defizitär, und das werde auch noch mindestens zwei Jahre so bleiben. Zudem bestehe eine Kooperation mit einem Reisebüro und einem bekannten Schweizer Taschenhersteller, der mit Reportagen Lese- und Diskussionsrunden organisiert.

Dass Bernet nach acht Ausgaben erst 7000 Käufer und Abonnenten für sein Produkt gefunden hat, bringt ihn nicht aus der Ruhe. Er ist einer, der glaubt, dass gerade jetzt „die Reportage wieder ihre Chance hat, weil das Digitale, das Schnelle, das Bildhafte, oft auch das Oberflächliche so gewaltig in unseren Medienkonsum eingedrungen ist“. Die Reportage soll als Entspannungsmedium funktionieren. Mit 15 Euro erscheint das Heft teuer, aber der Wert des Magazins, dessen neunte Ausgabe am 14. Februar erscheint, erschließt sich beim Blättern. Es ist eine Kaufverpflichtung für Journalisten, die es ernst meinen mit ihrer Berufung. Für alle anderen: ein sehr guter Tipp aus Bern. Marco Maurer