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Kunst fördern, Kommerz fordern?

Zwei Besuche an den Rändern des Dokumentarfilms

Es ist ein knarrender Holzboden, auf dem er sich bewegt. Seit über 20 Jahren geht er darauf entlang. Mit der Zeit hat sich die Farbe von den Dielen gelöst. In der Ecke steht ein kleiner Ofen, Wäscheleinen spinnen sich durch den Altbau, ein Schwarz-Weiß-Photo hängt an ihnen. Papier stapelt sich auf kleinen und großen Tischen ringsum. Mittendrin steht ein weißer Laptop, Videos liegen herum, Technik bricht in die wohlige Welt. Es ist das kreative Chaos, es ist das Gärtnerplatzviertel, es ist München. Es ist der Arbeitsplatz und die Welt des Nicolas Humbert, Dokumentarfilmer aus Leidenschaft.

Zehn Kilometer nordöstlich arbeitet auch ein Filmemacher. Betritt man dessen Welt im Unterföhringer Medienpark, rollen junge hübsche Menschen Werbeplanen aus, die Empfangsdame fragt, was sie für einen tun kann. An den Wänden hängen bunte Filmplakate, in einer Vitrine stehen gewonnene Filmpreise. Es ist eine organisierte Kreativität, es ist Münchener Schick, es gibt Assistenten, Buchhalter und Gästetoiletten. Es ist der Arbeitsplatz und die Welt des Franz Xaver Gernstl, Dokumentarfilmer aus Leidenschaft.

Gernstls Firma heißt Megaherz GmbH, Humberts Atelier nennt sich Cine Nomad. Die Namen verraten es: der eine ruft dem Publikum entgegen, der andere flüstert ihm ins Ohr.
Dennoch gehören beide einer Welt an: dem Dokumentarfilm. Es gibt Dinge, die sie einen: sie arbeiten an den Rändern ihres Genres. Und Dinge, die sie entzweien: es sind die entgegengesetzten Ränder, Kunst auf der einen, Kommerz auf der anderen Seite. Und noch etwas: beide erhalten Förderung. Für Gernstl ist es eine Zusatzeinnahme, die größere Projekte ermöglicht. Für Humbert ist es die Arbeitsgrundlage, ohne Fördergelder könnte er seiner Kunst nicht nachgehen.

Rechtfertigen müssen sie sich beide. „Gernstl? Der ist doch kein richtiger Dokumentarfilmer“, ist aus Kreisen der Hochschule für Fernsehen und Film in München zu hören. Falsch ist es nicht, dass man Gernstl nachsagt, es komme ihm auf den Erfolg beim Zuschauer an. Er hat seine Karriere beim Bayerischen Rundfunk begonnen, als er das erste Mal zu Paul Breitners Fußballmagazin mit durfte. Seither hat er Fernsehserien entwickelt und Kinofilme produziert. Er sieht sich als „talentierten Geschichtenerzähler“. Und Geschichten erzählen geht nur vor einem Publikum. „Ich bemühe mich, Filme zu machen, wo man hinterher ein bisschen schlauer, angerührt oder unterhalten ist.“
Er hat Erfolg mit dem, was sein Kollege Humbert „leichte Stoffe“ nennt. Humbert hat sein Handwerk auf der Hochschule für Fernsehen und Film in München gelernt. Bekannt ist er für Fred Frith – Step Across the Border, ein Musikerportrait, das von der Cahiers du Cinema zu den einflussreichsten 100 Filmen der Kinogeschichte gewählt wurde. Bei Humbert war es kein Fußballer, sondern Intellektuelle wie Jean-Luc Godard, die ihn zum Film verführten. Mit ein Grund, weshalb er oft nur von einer intellektuell interessierten Minderheit wahrgenommen wird. „Mir geht es darum, jeden Film so zu gestalten, wie ich ihn sehen will. Meine Filme zugänglicher zu machen, hat mich nie interessiert.“

Publikumserfolg versus Kulturanspruch – hier scheiden sich die Geister. Worauf kommt es an: dass viele den Film sehen oder dass der Film bei wenigen viel bewirkt? „Recht machen kann man es nie allen“, stellt auch Julia Rappold fest, die beim Film- und Fernsehfonds Bayern für die Nachwuchsförderung zuständig ist. Das ist die Herausforderung von Förderung: mit Filmen wie denen von Gernstl die Kassen zu füllen und mit Humberts Filmen den Intellekt zu schärfen.

Aber wie viel Intellekt verträgt ein Film? In Lucie et maintenant, Humberts neuestem Film, fährt ein Paar auf den Spuren des Dichters Julio Cortázar von Paris nach Lyon und macht an jeder zweiten Raststätte Halt. Zwischendrin: zwei Minuten dauernde Großaufnahmen von grünen Raupen, die auf einer roten Motorhaube entlang kriechen. Ganz nach Humberts Philosophie: „Mainstream hat mich nie interessiert.“ Dass es Luxus ist, sich am Rand des Publikumsgeschmacks zu bewegen, ist ihm bewusst. Aber er glaubt: „Dauerhaft überleben werden künstlerische Experimente, Filme, die nicht für den Markt produziert werden,.“

Gernstl nennt solche Filme „Festivalfilme“. Der Begriff ist durchaus kritisch gemeint. „Ich frag’ mich bei manchem Film, warum der gemacht werden musste.“ Manchmal schläft er gar dabei ein, denn solche Filme „ignorieren das Publikum“, findet er. „Was ich mache, würde ich jetzt auch nicht des Rätsels Lösung nennen. Aber: es belustigt die Leute einigermaßen und sie schauen es an.“

Doch was ist des Rätsels Lösung? „Es kommt darauf an, Kunstfilme und Kommerzfilme bei der Förderung zu berücksichtigen,“, bestätigt Julia Rappold. Das eine trägt das andere, der marktorientierte Film subventioniert den experimentellen Film. „Und irgendwer wird immer sagen, ‚macht mehr Kunstfilme’, oder ‚was habt ihr denn da jetzt wieder gefördert?’.“
Auch Humbert sieht die deutsche Förderungspraxis kritisch. „Kommerziell orientierte Filme, bei denen klar ist, dass sie Erfolg haben, brauchen keine Förderung.“ Vielmehr bräuchten experimentelle Filme die Fördergelder, die Chancen haben, deutsches Kino im Ausland wieder konkurrenzfähig zu machen. Dazu gehört vor allem eines: mehr Mut. Da ist er sich mit Gernstl einig, der junge Filmemacher auffordert, mehr zu wagen,. „Heutzutage einen Dokumentarfilm zu machen ist einfach, Technik und Produktionsmittel sind nicht teuer. Möglichkeiten gibt es, das ist meist nur von Faulheit gebremst.“ Humbert dagegen fordert mehr Mut von Produzenten und Filmförderung: „Leute, die ins Risiko für künstlerische Ideen gehen, sind extrem rar geworden.“

Betrachtet man die Werke beider, fällt auf, dass die Randfiguren des deutschen Dokumentarfilms so unterschiedlich gar nicht sind. Es vereint sie die Poesie. Sie liegt bei Gernstl in der Idee; er schnappt sich den Bus, fährt hinaus, liefert Milieustudien und sucht das Glück. Bei Humbert siegt auch die Poesie – jedoch vordergründiger, in den Bildern. Seine Filme sind auf Celluloid gebannte Fotographien. Humbert hat es geschafft, dem Dokumentarfilm Fotographien zu schenken, diese auf die Leinwand zu bekommen, sie dort still stehen zu lassen und gleichzeitig am Laufen, am Leben zu erhalten.

Eine Zusammenarbeit mit Gernstl kann sich Humbert nicht vorstellen: „Es sind sehr unterschiedliche Welten. Ich glaube nicht, dass ich ihn mit einem meiner Filme begeistern könnte. Aber vielleicht täusche ich mich.“ Er täuscht sich, denn treffen würden sich beide, Humbert und Gernstl, in der Mitte ihres Schaffens. Denn es gibt erfolgreiche Filme, die den Zeitgeist treffen, das Publikum erreichen und sowohl die Idee Gernstls, als auch die Philosophie und künstlerische Ästhetik Humberts vereinen: Filme wie etwa Philip Grönings Die große Stille, der in über zweieinhalb Stunden das schweigsame Leben in einem Karthäuserkloster portraitiert. Diesen Film hätte Franz Xaver Gernstl auch gerne produziert. Die Idee, Mönche in ihrem Alltag zu filmen, hatte Nicolas Humbert zusammen mit Studienfreund Philip Gröning vor über zwanzig Jahren in ihrer gemeinsamen Wohnung mit dem knarrenden Holzboden. Lea Hampel und Marco Maurer