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„Abe, hau ab!“

Das pazifistische Japan erlebt eine Zäsur: Regierungschef Shinzo Abe setzte gegen den Willen der Bevölkerung durch, dass sich das Land an Kriegseinsätzen beteiligen darf. Dagegen kämpft eine Bewegung namens Sealds. Ohne Demut vor Hierarchien und mit Sonic-Youth-Shirts.

Eine lange Schlange bildet sich vor einem Club in Shibuya, wo sich Nacht für Nacht das junge Tokio trifft. Im Inneren ist kein Durchkommen mehr. Der DJ hat einen Drink in der Hand und qualmt wie ein Schlot, aber die vielen Menschen sind nicht seinetwegen gekommen, sondern um zu protestieren. Der Grund ist ein Gesetz, das Premierminister Abe durchgedrückt hat: Es sieht vor, dass Japan sich künftig an Kriegseinsätzen beteiligen kann auch wenn es nicht selbst angegriffen wird. Bislang undenkbar in dem Land, das nach dem Horror von Hiroshima eine Art Staatspazifismus etabliert hat. Auf der Bühne debattieren ein junger Oppositionspolitiker mit einem Professor für Philosophie und eine aufstrebende Musikerin mit einem Literaturdozenten. Die Talkrunde, die wie eine japanische Version von »Roche & Böhmermann« wirkt, wird von einer jungen Aktivistin geleitet und von einem Kamerateam live ins Netz übertragen. Immer wieder gibt es zustimmenden Applaus, am Ende einigt sich das Podium darauf, japanische Soldaten seien »Kinder mit Waffen«, also ungeübt im militärischen Umgang. Japan und Krieg, das gehöre nicht zusammen. Über den Köpfen der Diskutanten hängt ein Wappen, bestehend aus einem Buch, einem Füller, einem Kopfhörer, einem Megafon und einem »Play«-Button das Logo von Sealds. Der Gruppe gelang es in den vergangenen Wochen, an die 120 000 Unterstützer zu mobilisieren. Mitgegründet haben Sealds der 21 Jahre alte Philosophiestudent Kanau Kobayashi und die angehende Studentin Cocoro Tany, die wir wenige Stunden vor Beginn der Show getroffen haben.

Fast alle, die bei den Demos mitmachen, sehen aus, als wären sie gerade aus einem Modeblog geschlüpft. Auch ihr habt euch heute für dieses Interview mit euren Shirts abgestimmt. Warum ist diese Inszenierung wichtig?
Kanau: Das Wichtigste ist zunächst der Protest selbst. Aber: Wir wollen die Leute in den jungen Vierteln Tokios, etwa Shinjuku und Shibuya, ansprechen. Und das klappt gut in der Verbindung von Mode und Musik.
Cocoro: Damit ziehen wir Leute an, die sich, wie viele Japaner, nicht für Politik interessieren. Sie kommen, weil es »cool« ist.
Und dann habt ihr sie?
Cocoro: Meist ja. Die Leuten haben bei uns das Gefühl, einer Band anzugehören, allerdings einer politischen (lacht).
Seht ihr euch selbst als westlich an?
Kanau: Ich frage lieber, warum die Begriffe »West« und »Ost« heute noch wichtig sind. Sie sind doch altmodisch. Ich gehe mit meinen koreanischen Freunden in ein chinesisches Restaurant und ins Disneyland, und am Anfang des Jahres suche ich einen buddhistischen Schrein auf, am Ende feiere ich Weihnachten. Ich sehe diese West-Ost-Grenze nicht.
Nun, in Europa ist es im Gegensatz zu Japan gesellschaftlich stärker akzeptiert, eine andere Meinung zu haben. Durftet ihr euren Lehrern widersprechen?
Kanau: Natürlich, aber das haben nur wenige gemacht. Wir Japaner versuchen es zu unterlassen, unsere Meinung direkt auszusprechen. Wenn wir etwas sagen, dann immer vage. In Sportvereinen, in der Firma, sogar unter Freunden gibt es stets Hierarchien. Wir müssen immer darauf achten, was der Älteste fordert. Wir sind mit diesen Bräuchen aufgewachsen, und als Resultat daraus, tendieren viele Japaner leider dazu, das Denken einzustellen.
Was denkt ihr über die japanische Regierung?
Kanau: Gestern hielt ich in Shinjuku eine Rede vor 3000 bis 4000 Menschen. Ich sagte, dass es laut OECD mehr als 20 Millionen Menschen in Japan gibt, die in armen Verhältnissen leben und das in diesem, wie es Herr Abe ausdrückt, »hochentwickelten Land«. Aber in der Realität führen viele Japaner ein unsägliches Leben. Sehr viele alleinerziehende Mütter können ihre Kinder nicht angemessen aufziehen, sie können es sich nicht leisten, sie auf Universitäten zu schicken. Die japanische Gesellschaft wird immer älter, die Geburtenrate sinkt. Und obwohl sich die Welt inmitten einer gewaltigen Flüchtlingskrise befindet, nimmt Japan nur eine Handvoll auf. Deswegen: Abe macht einen miesen Job.
Cocoro: Absolut.
Japans Premierminister Abe sagt, das neue Gesetz sei ein Beitrag zum Weltfrieden.
Cocoro: Offensichtlich ist es einfach kein Frieden, wenn man Männer mit Waffen ausstattet. Herr Abe hat eine seltsame Definition von Weltfrieden, finde ich.
Kanau: Die USA oder auch Großbritannien senden ihre Truppen seit Jahrzehnten in den Irak oder nach Afghanistan, weil sie denken, damit die Region befrieden zu können. Hat das bisher funktioniert? Ich denke nicht. Zudem hat es den Effekt, dass es auch den Terrorismus in die eigenen Länder brachte, denken wir an die Anschläge jüngst in Paris, auf die Londoner U-Bahn oder den Boston-Marathon. In Japan gab es das bisher noch nie.
Das klingt egoistisch, nach dem Motto: Der globale Terror geht uns Japaner nichts an.
Cocoro: Nein, aber nur immer die USA und ihre Verbündeten zu unterstützen, ist nicht der richtige Weg. Waffen sind nie eine echte Lösung, sondern führen immer zu weiteren Problemen. Ich möchte nicht, dass Japaner ihr Leben bei einem Militäreinsatz verlieren, und ich möchte auch nicht, dass später meine Kinder in den Krieg ziehen müssen und getötet werden, oder dass sie selbst töten müssen. Wir Japaner möchten nicht Teil irgendeines Krieges sein. Wir Japaner könnten uns verstärkt um die soziale Situation vor Ort kümmern, wir könnten Krankenhäuser errichten oder das Bildungssystem mit aufbauen. Das wäre ein japanischer Weg.
Das ist der Weg, den Deutschland seit Jahrzehnten beschreitet. Ihr geht kritisch mit den USA und ihren Verbündeten um, liebt sie aber auch. Ist das richtig?
Kanau: Ich verstehe, dass man unsere Position als Antiamerikanismus auslegen kann. Aber darum geht es eigentlich gar nicht, es geht uns einfach um Krieg oder Frieden. Ich studiere etwa deutsche Literatur und schätze deutsche Philosophen.
Cocoro: Und wir jungen Japaner lieben doch die USA. Wir schauen ihre Filme, lesen ihre Bücher, hören ihre Musik, sprechen ihre Sprache und kaufen ihre Mode.
Eure Sealds-Shirts, die ihr heute tragt, leiten sich ja auch von einem ikonischen Cover der New Yorker band Sonic Youth ab.
Kanau: Wir jungen Japaner sind alle mittlerweile »made in the United States«.
Wie lebt es sich in Japan als Aktivistin?
Cocoro: In Japan wird erwartet, dass junge Frauen sich demütig verhalten. Seine Meinung zu äußern, ist schon nicht einfach, aber seine Meinung gegen etwas zu äußern, gilt als verdächtig. Die Leute fragen: »Warum machst du das als Frau?«
Kanau: In Deutschland ist eine Frau Kanzlerin, in Japan wäre eine Premierministerin noch immer unmöglich. Deswegen ist auch Gleichberechtigung für Sealds ein fundamentales Anliegen.
Gegen eines eurer Mitglieder und seine Familie gab es kürzlich eine Morddrohung. Habt Ihr ähnliche erfahrungen gemacht?
Cocoro: Im Netz werde ich hart angegangen. Dass ich hässlich sei, ist noch das Harmloseste. Und seit einer Demo habe ich einen Stalker. Das ist unheimlich. Ich kann das nicht beweisen, aber ich denke, er kommt aus sehr konservativen Kreisen.
Kanau: Die Rede, von der ich sprach, wurde im Netz gut tausendmal geteilt. Danach bekam ich eine Nachricht vom Verwaltungsbüro meiner Universität. »Kanau Kobayashi, bitte kommen Sie so schnell wie möglich in unser Büro«, hieß es. Mir wurde gesagt, dass es über längere Zeit jeweils mehr als zwanzig Anrufe pro Tag von äußerst konservativen Leuten gegeben habe. Sie hätten sich bei der Uni beschwert, dass ihr Student das Ansehen Japans beschmutze. Viele forderten, dass die Uni deswegen die Polizei rufen sollte.
Gibt es jemanden, der auf Euch aufpasst?
Cocoro: Meine Freunde und mein Freund versuchen, auf mich achtzugeben.
Kanau: Nein, wir haben niemanden, der für unsere Sicherheit garantieren kann.
Hast du deswegen auch dein Facebook-Profil gelöscht, Kanau?
Kanau: Ja, mir ist das gerade nicht geheuer. Aber ich kann die Leute sogar verstehen, das liegt einfach daran, dass Japan keine Kultur des Protests hat und Gegenmeinungen schwer vermittelbar sind.
Was denkt eigentlich euer Umfeld über euren Protest?
Kanau: Unsere Freunde sagten lange, wir sollten damit aufhören. Sie sorgten sich. Nachdem Sealds so groß geworden war, reagierten auch die ersten unserer Professoren. Die meisten haben eine ähnliche Meinung wie ich, aber sie waren trotzdem besorgt, weil Protestbewegungen bei älteren Menschen bestimmte Bilder wachrufen. Sie dachten, wir schlagen alles kurz und klein. Weil sie die gewalttätigen Studentenproteste der 60er Jahre, die Straßenschlachten mit der japanischen Polizei, vor Augen hatten, dachten sie, damit würden wir uns nur Probleme schaffen. Damals starb ein Student. Jetzt haben sie sich damit arrangiert. Meine Eltern waren sogar auf ein paar Sealds-Demos. Das macht mich nun als Sohn stolz.
Cocoro: Bei mir ist das anders, meine Mutter hat mich früher auf Anti-Atom-Demos mitgenommen. Sie ist aber eine Ausnahme.
Manche japanischen Unternehmer, wie der Netz-Tycoon Takafumi Horie, glauben, dass es Sealds-Demonstranten schwer haben werden, einen Job zu finden. Tickt Japan wirklich so?
Kanau: Zu den Firmen, deren Vorstände so denken, wollen wir nicht. Diese Menschen sind nur um sich selbst und ihre Netzwerke besorgt. Wir als junge Generation haben eine Verpflichtung, dass die Zukunft besser wird. Und das gelingt nur, wenn wir das tun, was wir tun, und das alte System nicht respektieren.
Cocoro: Wir sind nicht auf alte Netzwerke angewiesen. Wir schaffen gerade durch Sealds unser eigenes.
Sorgt ihr euch, dass ihr aufgrund eurer gesellschafts- und regierungskritischen Haltung vom Staat bestraft werden könntet?
Cocoro: Das wäre nicht verfassungskonform, aber ich glaube schon, dass das passieren könnte.
Kanau: Bisher ist das noch keinem Sealds-Mitglied geschehen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das so bleibt. Nicht nur deswegen sind wir gegen ein weiteres Gesetz, das 2013 beschlossene Geheimhaltungsgesetz. Das erlaubt es der Regierung, Sachverhalte, die ihre Arbeit in ein schlechtes Licht stellen könnten, über Jahrzehnte vor der Bevölkerung zu verstecken. Sie können etwa damit alles vertuschen, was in Fukushima falsch lief und noch immer falsch läuft. Ein ähnliches Gesetz gab es schon einmal zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Damals verhafteten die Machthaber jede Menge unschuldiger Menschen aufgrund dieses Gesetzes. Sie brandmarkten Pazifisten als Landesverräter. Das waren Andersdenkende. Wir, Sealds, sind das heutzutage auch. Wenn wir als Organisation heute eine Information bekommen, die der Regierung schadet, könnten wir oder Whistleblower aufgrund dieses Gesetzes festgenommen werden. Das ist einer Demokratie nicht würdig.
Hat Sealds Japan bereits verändert?
Cocoro: Ja. Wir konnten zwar das neue Gesetz nicht stoppen, aber wir haben viele Menschen politisiert. Zehntausende kommen zu unseren Demonstrationen.
Kanau: Wir denken sogar, dass es egal wäre, wenn sie nun Sealds verlassen würden. Wir haben sie schon politisch infiziert, sie würden dieses Virus breiter in der Gesellschaft streuen. Zudem beobachten wir gerade, dass auch immer mehr ältere Menschen aus den verschiedensten Milieus zu uns stoßen Professoren, Arbeiter, Väter und Mütter. Unsere neue Aufgabe ist es nun, noch mehr von diesen Personen anzulocken und sie bei Sealds zu integrieren. Wenn wir sogar die Generation unserer Eltern bekommen, dann muss sich Herr Abe warm anziehen. Im nächsten Juli wird bei uns die neue Regierung gewählt. Bis dahin haben wir ein neues Ziel: Wir wollen Abe und seine Regierung stürzen. Marco Maurer

WER IST SEALDS?
Sealds, gegründet 2014, bedeutet »Students Emergency Action for Liberal Democracy«. Die Kerntruppe der Aktivisten besteht aus 200 Studenten, auf Facebook folgen ihnen 30 000. Auf ihren Demos gehören Megafone genauso dazu wie DJs es ist einer der größten Proteste in Japan seit den Studentenprotesten der 60er Jahre. Damals kam es ähnlich wie in Europa zu Straßenschlachten und Massenverhaftungen. Sealds protestiert friedlich. Zu den Demos versammeln sich Tausende auf der weltbekannten Shibuya-Kreuzung oder vor dem Regierungsgebäude. Protest hat in Japan keine Tradition; Hierarchien zu achten, ist sehr wichtig in der dortigen Kultur. Doch Fukushima und die mangelnde Transparenz der Politik im Umgang mit der Katastrophe ein Geheimhaltungsgesetz schützt die Regierung vor unerwünschten Fragen brachen das auf. Sealds ist in dieses Vakuum gestoßen und politisiert eine neue Generation. Ihre Losung: »Take back Democracy«.