Süddeutsche Zeitung
Die Schule des Herrn Kim
Herr Kim muss unter seinem Bett, oder zumindest in seinem Büro im Münchner Stadtteil Harlaching, einen kleinen Zettelkasten haben; vielleicht nicht so groß wie der von Ewald Lienen, aber immerhin. Einer dieser gelben Zettel aus Kims Kiste ist aus dem Jahr 2001. Herr Kim, damals wie heute Nachwuchstrainer des FC Bayern München, gab seinen Spielern eine Hausaufgabe auf über Nacht und fragte sie, was für sie ein „Team“ sei. Thomas, damals 12 Jahre alter Innenverteidiger in der D-Jugend des FC Bayern, erledigte seine Aufgabe, wie man es auch heute noch von ihm kennt, äußerst ordentlich. Denn vor dem nächsten Training gab er Herrn Kim den Zettel zurück: „Zusammenhalten“, hatte er unter anderem notiert, dann „immer kämpfen“, oder „wenn ein Mitspieler einen Fehler macht, nicht meckern“.
Ein Zettel eines 12-jährigen Nachwuchsfußballers aus dem Jahr 2001, der wie eine Blaupause für Thomas Müllers Profikarriere heute erscheint. Und in dieser, so ließ Müller vor nicht allzu langer Zeit verlauten, gab es vor allem zwei Trainer, die ihn prägten. Der eine: Louis van Gaal, sein jetziger Trainer. Der zweite: Herr Kim, sein Trainer in der C- und D-Jugend des FC Bayern.
Herr Kim ist es beispielsweise zu verdanken, dass Thomas Müller beim FC Bayern wie in der Nationalelf offensiv nach vorne prescht, und nicht als Innenverteidiger, sagen wir beim MSV Duisburg, in der Defensive verharrt. „Thomas konnte das nicht, er hat immer seine Position verlassen, ist nach vorne gelaufen. Dann habe ich ihn auf die rechte Seite gestellt.“ Diese Position spielt Müller heute noch, beim FC Bayern und in der Nationalmannschaft.
Herr Kim heißt übrigens Teong-Kim Lim, was zeigt, dass Herrn Kims korrekte Anrede eigentlich Herr Lim wäre, aber kaum jemand weiß das beim FC Bayern. So schreitet Herr Kim, 75-facher Nationalspieler Malaysias, über das Trainingsgelände des FC Bayern an der Säbener Straße und trifft auf etliche Betreuer, Trainer oder Spieler. Und selbst Franck Ribéry sagt zu dem 46 Jahre alten Coach: „Hallo Kim, wie geht’s?“
Seit 1995 ist Kim in Deutschland. Bis 2000 war er Trainer der ersten Mannschaft des SV Puchheim. Dann entdeckte ihn der ehemalige Bayern-Trainer Dettmar Cramer auf einem Trainer-Symposium in Frankfurt. Wenige Wochen später trat Kim seinen Dienst an der Säbener Straße an. Seither ist er beim FC Bayern tätig und seither versucht er aus talentierten Jugendlichen Profifußballer zu formen. Was muss man aber dabei beachten? Und wie wird aus einem 12-Jährigen ein Nationalspieler? Bestenfalls ein Thomas Müller oder ein Holger Badstuber? Auch der lief durch die Schule des Herrn Kim.
Eine erste Antwort gibt Thomas Müller selbst: Kim habe ihm das „ABC des Fußballs“ beigebracht. Darauf angesprochen lächelt Kim beglückt. Dann sagt er: Das A sei die Technik, das B die Taktik, und das C die Ballgeschicklichkeit. Da das weder für einen Nachwuchsfußballer noch für einen Journalisten besonders greifbare Beispiele sind, nimmt Herr Kim dann einen plastischeren Vergleich zur Hilfe: das Musikvideo „Thriller“ von Michael Jackson. Er habe das neulich im Fernsehen gesehen und sich gefragt: „Warum können die alle – ohne sich dabei anzusehen – auf ein Lied tanzen?“ Weil sie eben nicht nur Talent hätten, sondern auch die Tanzschritte gelernt haben.
Nun, und so ähnlich funktioniere guter Fußball, sagt Kim. Ohne Mitspieler suchen zu müssen. So spielen zu können, muss man bereits in jungen Jahren lernen. „Jeder Spieler muss bei der Ballannahme bereits wissen, wo der freie Mitspieler steht, wohin er den Ball spielen kann.“ So sei das beim Fußball, so ist es beim King of Pop. Der Unterschied ist: Tanzt bei Thriller einer aus der Reihe, könnten sich Zombies über ihn hermachen. Beim Fußball ist es nicht ganz so schlimm, aber der Ball landet trotzdem beim Gegner. Deswegen ist es wichtig, Pass- und Laufwege möglichst früh anzutrainieren und dabei als Trainer mehrere „choices“, sagt Kim, mehrere Wahlmöglichkeiten zu geben. Funktioniert diese Choreographie im Spiel, sei das ein guter Moment. „Amazing“, nennt das Herr Kim, der immer mal wieder englische Begriffe in sein gutes Deutsch einstreut.
Gerade bei jungen Spielern sind zudem noch zwei Dinge wichtig. Einerseits muss man den Spielern die Spielzüge, die Taktik selber zeigen und sie nicht nur auf der Tafel erklären. „Nicht nur reden“, sagt er dazu. Andererseits muss man auch mit den Spielern ausreichend kommunizieren. Macht ein Spieler eine Übung falsch, spricht Kim mit ihm. Kommt er zu spät, spricht er mit ihm. Macht einer ein gutes Spiel, spricht er nicht zu viel. „Man darf die Spieler nach einem guten Spiel nicht zu sehr loben. Das schadet ihnen.“ Vielmehr müssen alle Spieler am nächsten Tag wieder bei Null anfangen. Denn: „Gestern war gestern.“
Spricht Herr Kim über Thomas Müller, ist er fern dieser Gedanken, dann strahlt der Jugendtrainer selig und sagt: „Dieser Junge ist ein Teamplayer.“ Und verrät so den Hintergrund seiner Zettelwirtschaft: „Für mich ist es wichtig, dass die Spieler schon in jungen Jahren als Team denken.“
Es ist noch nicht lange her, da hat Kim ein Angebot des malaysischen Fußballverbands abgelehnt, der ihn gerne als Nationaltrainer verpflichtet hätte. Herr Kim würde aber lieber vom aktuellen Co-Trainer der U19 zum Trainer einer Mannschaft des FC Bayern aufsteigen und später eine Bundesligamannschaft betreuen wollen. Und dann, sagt er, würde er auch wieder die gelben Zettel raus holen. Marco Maurer