Logo - Marco Maurer Journalist


FC Heimatlos

Es ist wieder losgegangen: Alle sprechen über den Schweizer Fussball. Unser Autor ist grosser Fussballfan, hat aber keinen Schweizer Herzensklub – und kann daher nicht mitreden. Deshalb will er sich einen Verein suchen. Geht das?

Im Keller unseres Hauses hing immer ein sieben Meter langes Poster. Darauf zu sehen eine Fussballmannschaft in Rot, Karl-Heinz Rummenigge, Uli Hoeness, Paul Breitner nahezu in Lebensgrösse, der FC Bayern also. Meine Mutter feierte zusammen mit Gerd Müller ihren 17. Geburtstag, weil sie wie der Jahrhundertstürmer in Nördlingen geboren wurde. Gerd Müllers erste Fussballschuhe hat ihm mein Onkel, bei dem der junge Müller arbeitete, geschenkt. Mein Cousin wurde vor drei Jahren zur Vereinshymne des Klubs begraben, sein rot-weisser Bayern-Schal hing ums Holzkreuz. In diese Familie wurde ich geboren, alle sind wir rot. Seit über dreissig Jahren habe ich eine Jahreskarte, Block 123, Reihe 25, Sitz 18, rechts neben mir sitzt stets mein Vater. Bayern-Fan zu sein, gehört für mich zum Leben wie Trauer, Liebe, Glück und Tod.

Doch ich lebe nun im siebten Jahr in der Schweiz. Ich fühle mich hier zu Hause. «Hesch geschter YB gseh?» – «Ich bi am Sunntig bim FCZ gsi.» – «Dr Effceebee scho wieder, sone Schissmatch!» Solche Sätze höre ich nach jedem Wochenende im Büro.

Ich stehe dann stumm daneben. Schweizer Fussball interessiert mich nicht, ich weiss nichts darüber, kein Gefühl regt sich. Aber seit kurzem – vermutlich weil ich nicht weiter der Aussenseiter bleiben möchte – frage ich mich: Wäre es nicht schön, Fan eines Schweizer Klubs zu sein? Mitreden zu können? Welcher Klub wäre das und warum genau dieser? Und: Kann man eigentlich einen zweiten Klub in sein Herz lassen?

Zum Ende der Hinrunde der vergangenen Saison schaue ich mir die Tabelle der Super League an und notiere mir zu jedem Verein Dinge, die mir einfallen:

YB: Habe schon in Bern gelebt, Marzili, Wankdorf, 1954, «Rahn schiesst!».
Servette: Hat da nicht Rudi Völler gespielt? Oder Netzer?
St. Gallen: Olma! Möbelhaus als Stadion. Oder ist’s doch eine Autobahnausfahrt?
Sion: Wo ist das? Aber ja, der FC Constantin ist mir durch seinen Tausendsassa und Präsidenten geläufig.
GC: Das erste Schweizer Team, das mir als Kind auffiel, Grashüpfer, süss!
Luzern: Die haben eine Brücke! Ein Stadion auch?
FC Basel: Europapokal! Hübsche Trikots! Doch sagen nicht viele: Arrogante Basler?
Lugano: Sonnig?
FCZ: Sehe die Graffiti an jeder Zürcher Hauswand Arbeiterklub.
Winterthur: Echt das St. Pauli der Schweiz?

Der FC Constantin ist raus, auch Luzern. Ich verbinde nichts mit den Vereinen. Dann schaue ich mir noch die Ligen unter der Super League an, mancher Klub klingt für mich eher nach Pharmaunternehmen als nach Herzensverein, Xamax etwa. Es bleibt bei acht Klubs. Von denen möchte ich mir jeweils Spiele ansehen. Kann ein Team mein Herz erwärmen?

Meine Schweizer Freundinnen und Freunde interessieren sich für den Ausgang meines Experiments, sie sagen, auch sie hätten – ich bin also nicht allein – keinen Klub hierzulande. Zu klein ist ihnen die Super League, zu unbedeutend. Die ersten flüchteten in den neunziger Jahren mit Stéphane Chapuisat in Richtung Ausland. Erst dort holten sie die Champions League.

Ich wohne in Zürich, die Recherche startet zufällig, an einem kalten Februarsonntag gehe ich spazieren. Kawumm! Durch den Böller werde ich auf eine präpubertäre und ­eindrucksvolle Masse auf der Fritschiwiese aufmerksam, Tausende FCZ-Jugendliche, fast alle gekleidet in graue Regenjacken, ihr Jugendbewegungs-Ultra-Outfit. Der FCZ spielt gegen GC, ausgerechnet Derby. In Madrid elektrisiert so ein Spiel Wochen zuvor die Stadt; in Zürich kann es unbemerkt an einem vorbeiziehen. Ich frage spontan einen Freund, FCZ-Fan und oft im Letzi, ob er mich zum Derby begleitet. Er ist in den Ferien, gibt mir aber Tipps, wo ich mich hinsetzen soll, neben der Südkurve, den Ultras von der Fritschiwiese also. Ich müsse mich eher so positionieren, dass ich beide Fanlager im Auge hätte, antworte ich. «Ich könnte ja auch GC-Fan werden.» «Niemand ist GC-Fan», antwortet er.

Ich ignoriere seinen Rat, setze mich auf die Gegengerade, genau zwischen den Tausenden FCZ-Fans und der für ein Heimspiel kümmerlichen Anzahl GC-Fans, neben denen ein Banner über die leeren Sitze gezogen ist, das mein Mitleid erregt: «Au wänn du nöd in Mode bisch». Eine Fangruppierung, die ihr verbliebenes bisschen Kraft daraus zieht, den Hype um das andere Team der Stadt abzuwerten? Statt sich an der eigenen Historie zu berauschen, 27 Meistertitel, 137 Jahre Geschichte, Schweizer Rekordmeister. Vom Stolz des Vereins ist nichts mehr übrig. Am Vortag des Spiels fragte die NZZ: «Wie weiter, GC?»

Das Spiel startet, GC ist besser. Allerdings fordert auch mein Handy meine Aufmerksamkeit: Bundesliga-Spitzenspiel, Union Berlin gegen den BVB. Ich könnte auf dem warmen Sofa sitzen und dieses Spiel ansehen. Warum sich mit dieser Liga beschäftigen? In diese Gedanken hinein schiesst GC das 1:0, überall Emotionen, Enttäuschung oder Freude – nur mir ist es egal. Zu meinem kühlen Kopf passt, dass der Treffer von einer Unternehmensberatung präsentiert wird.

Allerdings, die FCZ-Kurve übt einen Sog auf mich aus, «FC Züri allez, allez!», schallt es über Minuten. Zur zweiten Halbzeit zieht es mich genau in diese Kurve, ein guter Beat. Klar ist: GC ist raus. Wenig später pflückt ein FCZ-Spieler eine butterweiche Flanke aus dem Himmel und feiert vor der pyrovernebelten Tribüne und mir den Ausgleich. Drei, vier FCZ-Fans um mich klatschen sich ab, gemeinden den Unbekannten neben sich ein, mich. Sieben Minuten später: 1:2, wieder trifft der gleiche Spieler, wieder Jubel, wieder rote Pyros, wieder ich mittendrin im Wir. Genau dort, im Herzen des FCZ, ist mir wärmer geworden. Nach dem Spiel ziehe ich mit dieser Gemeinde aus dem Stadion, durch die Stadt, in der ich lebe. Ich diesem Moment fühle ich mich ein wenig mit der FCZ-Seele verbunden.

Am nächsten Tag sagt eine Kollegin, FCZ-Fan, im Büro zu mir: «Hab auf Instagram gesehen, du warst beim Derby!» Ich kann nicht nur erstmals mitreden, ich werde sogar angesprochen. Dennoch habe ich den Eindruck, festzustecken. Ich hole mir Rat, und zwar bei dem Professor und Fanforscher Harald Lange von der Universität Würzburg. Der Sport- und Sozialwissenschafter, einer seiner Schwerpunkte ist Sportphilosophie, lehrt auch regelmässig in Luzern. In einem Interview sprach er über den Schweizer Fussball und den Unterschied zwischen den Menschen, die mit einem Verein aufgewachsen sind, und einer Gruppe, die sich von einem Hype um eine Mannschaft anziehen lässt; Modefans, wie die GC-Kurve sie beschimpft, «Kunde im Fankostüm» nennt es Professor Lange. Sollte ich mich angesprochen fühlen?

Harald Lange, 54, sitzt auf einem Sessel, im Hintergrund Bücher, er streicht sich beim Denken über den Bart. Einen zweiten Verein in seine Nähe zu lassen, sei bis vor zwanzig Jahren undenkbar gewesen, sagt er. Doch die globalisierte Fussballwelt, omnipräsente Vereine wie Real und Barcelona, Stars wie Messi und Mbappé verwässerten dieses Ein-Klub-Prinzip. Mittlerweile sei das Mehr-Klub-Prinzip gerade bei Fans aus Asien sehr verbreitet, sagt Lange. Aber auch Hardcore-Man-United-Fans fliegen zweiwöchentlich zum aus ihrer Sicht schnuckeligen St. Pauli. Zudem weiss Lange, dass viele Schweizer einen Zweitklub im Ausland haben – ein YB-Freund von mir, der stets die alten YB-Trikots seiner Brüder tragen musste und so in den Klub hineinwuchs, ist auch Arsenal-Fan. Er hat früher auf der Insel gelebt und gleichzeitig «Fever Pitch» von Nick Hornby gelesen, der dort seine Arsenal-Leidenschaft beschreibt. So kam er dem Klub nahe. Ihm half, dass sein Lieblingsfussballer Thierry Henry und auch zwei Schweizer bei Arsenal spielten. Auch an mir, meinem Leben zwischen zwei Ländern merke ich: Der Fussball wird globaler.

Professor Lange ist verständnisvoll, ratsuchend, an einer Stelle sagt er: «Sie möchten einen Schweizer Verein finden und haben die Illusion, dass das so schön sein kann wie Ihre Liebe zum FC Bayern.

Ich schweige.

«Es geht Ihnen nicht um das Ergebnis, sondern um die Zugehörigkeit. Wo kommt man ins Gespräch, wo fühlt man sich aufgehoben?»

«Vermutlich», antworte ich.

«Ich komme mir vor wie Ihr Therapeut», erwidert er.

«Geht mir ähnlich», sage ich.

Gegen Ende der Therapiestunde gibt Lange mir einen Tipp: Ich soll eine Mind-Map erstellen. Welcher Verein hat eine strukturelle Ähnlichkeit mit meinem Erstklub? Welcher ist das Gegenteil? Finde ich, Sohn zweier Handwerker, vielleicht einen Arbeiterklub interessant? Oder reizen mich bestimmte Werte eines Klubs? Seine Historie? Gibt es Verbindungen zur Stadt? Freunde, die mich für einen Klub begeistern?

«Mich würde eher ein Underdog interessieren, also das Gegenteil vom FC Bayern», sage ich und denke selbst: Aha, eine Spur. Der FC Winterthur ist, als wir dieses Gespräch führen, Schlusslicht, zwei Pünktchen hinter dem FCZ, dem Arbeiterklub.

Doch zunächst nimmt mich, April nun, ein Freund und YB-Fan spontan mit ins Letzi. YB kann dort Meister werden. Es sind wieder kaum GC-Fans da, und auch die angekündigten 12 000 Schlachtenbummler aus Bern sind nicht zu sehen; insgesamt nur 8700 Fans. YB kann den Titel gewinnen, und Bern bleibt zu Hause? Mein YB-Freund beschwichtigt: kaltes Wetter, Spiel unter der Woche, Meisterschaft quasi entschieden, die Berner hoffen, dass sie am Wochenende im Wankdorf Meister werden.

Genau so spielt YB, verliert mit 1:4. Der YB-Freund schwärmt nach dem Spiel dennoch, wir sind die letzten zwei Menschen im leeren Letzigrund, von der Atmosphäre im Wankdorf. Weil ich Bern mag und einmal gelesen habe, dass selbst britische Anhänger von den YB-Fans beeindruckt seien, gebe ich dem Klub eine zweite Chance und plane noch im Letzi die Reise ins Wankdorf.

Erst aber, fünf Tage später, Winterthur, Stadion an der Schützenwiese, das Spiel gegen den FC Basel steht an. Ich habe Freunde in Winterthur und eine generelle Schwäche für beschauliche Städte wie Freiburg, Augsburg und Reykjavik. Vielleicht liegt mir der Klub?

Ich bin mit einem Kollegen und FC-Winti-Fan verabredet. Die Schützenwiese ist der feuchte Fiebertraum jedes Fussball-Nostalgikers: Zwar oberste Schweizer Liga, aber unter der Treppe steht wie bei einem Dorfverein der Rasenmäher, und auf dem Klo hängen Plakate von kanadischen Indie-Bands, auf der Sozialcharta wird prominent gesagt: «Integration ist Teil der Klubkultur», die Fanschals im Fanshop wirken selbstgestrickt, die hölzerne Anzeigentafel stammt ungefähr aus dem Jahr der Vereinsgründung, 1896. Im berühmten «Salon Erika», einem rot-weissen Baucontainer, der genau für diese Andersartigkeit des Klubs steht, sehe ich mir vor der Bierkurve, dem Herzstück der FCW-Fans, wie paralysiert eine 5-Quadratmeter-Ausstellung des bildenden Künstlers Max Grüter an, bevor ich mir in Domenicos Wohnmobil-Pizzeria eine Holzofenpizza bestelle. Als ich zu meinem Platz laufe, ertönt ausgerechnet Lennons «Imagine».

Imagine Winti?

Sie machen nicht sehr viel falsch hier, ausser wie sie Fussball spielen. Schon in der 12. Minute steht es 0:2 für Basel, «oisi Verteidigung», grummelt ein altgedienter Fan links neben mir. Mein Kollege hat sich hinter mich setzen müssen. Rechts neben mir hatte sich zuvor eine Spielanalytikerin des FC Basel auf zwei Sitzen breitgemacht, ich fragte sie höflich, ob sie für meinen Kollegen ihre Jacke vom Sitz räumen könnte. Sie verneinte, der Platz blieb neunzig Minuten unbesetzt. Bei Franz Beckenbauer genügte einmal eine Ohrfeige, damit er nicht zu 1860, sondern zu Bayern wechselte. Ich beschliesse in diesem erneuten Grosskotzmoment einer Basel-Verantwortlichen (ich hatte schon vor ein paar Jahren eine ähnliche Begegnung mit offiziellen FC-Basel-Vertretern): «Ciao FCB!», und das, obwohl die Basler Fans die eigentliche Stimmung auf der Schützenwiese machen.

Zeitgleich spielt auch mein Familien-FCB in München. Neben meinem Vater sitzt meine Nichte. Auch die nächste Generation also rot-weiss. Dieser FCB stösst, während Winti gegen den anderen FCB mit 1:4 untergeht, den BVB von der Bundesliga-Spitze.

Zwei Wochen später, Mai, sonntags, Zug nach Bern, ein Freund nimmt mich mit zu YB. Wir plaudern, neben uns haben sich zwei in Zürich wohnende Berner, Ende 50, niedergelassen, gelb-schwarze Trikots und Schals. Zeitgleich überreicht mir mein Freund einen gelb-schwarzen Leihschal, «fürs Wankdorf», sagt er. In meiner Familie gibt es Menschen, die weder die Zahl 60 in den Mund nehmen noch gelbe Sachen tragen, denn das eine steht für die «Konkurrenz» aus München, den TSV 1860, das andere für die verhasste Borussia aus Dortmund. «Gäub-schwarz üses Härz» ist also schwer zu vereinen mit meinem Familienerbe. Mein YB-Freund heute ist trinkfester als mein Winti-Kollege neulich. Werde ich abgefüllt? Nach dem dritten Bier bin ich zumindest bereit für den Leihschal. Ich bin aber nicht so betrunken, dass mir der Schal nicht ein wenig heuchlerisch vorkommt. Möchte ich höflich sein?

YB ist mittlerweile Meister, die Stimmung beim Spiel gegen den FCZ so dürftig wie der Kunstrasen im Wankdorf. Normalerweise sei es atmosphärischer, entschuldigt sich der YB-Freund, und: «Scho äs bitzli ä müedä Match gsi.» Am meisten freut mich, dass eine Reverenz an das alte Wankdorf noch zu sehen ist, der Uhrenturm, Bern 1954. Aber das genügt wohl nicht, um ein YB-Fan zu sein? Und eben die Farben – das YB-Spiel ist aus.

Berner Freunde erzählen mir von, so nennen wir ihn mal, Davide. Er ist in Norditalien geboren, aber dennoch der grösste YB-Fan, den sie kennen. «Wie kann das sein?», frage ich ihn nach dem Spiel. «Juve ist meine Frau, YB meine Affäre», antwortet er. Als er fünf war, habe er von seiner Mutter ein Juve-Trikot geschenkt bekommen, da sei es um ihn geschehen gewesen. Im Studium später habe er dann in Belgien einen Berner kennengelernt, der ihm immer von YB erzählt habe, dem Verein, der seit Jahren alles vergeigte. Ein Zufall wollte es so, dass Davide zwei Jahre später ein Praktikum in Bern annahm und plötzlich selbst mit dem Berner und seinen Cousins regelmässig ins Wankdorf ging. Seither steht er immer hinter dem Tor, Sektor D, dort, wo die lautesten Fans sind, «Gäub-schwarz üses Härz.» Oder doch vielleicht bianconeri, weiss-schwarz? Als vor fünf Jahren YB zweimal in der Champions League gegen Juve gespielt habe, sei er froh gewesen, dass im ersten Spiel die Italiener gewonnen hätten; er war im Turiner Stadion, einer der Tifosi. Er möchte daher nicht seinen richtigen Namen nennen, aus Sorge, diese Anekdote könnte heikel werden. Fans sind komplizierte Wesen, aber im Grunde verständnisvoll. Auch ein eingefleischter YB-Fan könnte Davides Geschichte nachvollziehen.»

Doch welcher wird nun mein Zweitklub? Noch immer stehen fünf Namen auf der Liste. Ich mache mich wieder nach Winterthur auf, nicht weil ich mich schon für sie entschieden hätte, sondern weil dort der FCZ zu Gast ist, deren Fans mich beeindrucken. Winterthur spielt um den Klassenerhalt, der FCZ doch noch um den Europacup-Einzug. Ist es auch ein Entscheidungsspiel um mein Herz?

Nach dreizehn Minuten steht es 0:2 für den FCZ; der spätere Endstand. Sportlich müsste es mich nach Zürich ziehen. Doch suche ich nicht einen Underdog?

Mein Winti-Kollege und ich bleiben auf einem Hügel zwischen Platz und Klubheim hängen. Nach dem Spiel treffen sich hier stets die langjährigen Fans, eine Hunderte Menschen fassende Freiluftbar. Ich spüre hier, in Sachen Authentizität kann nicht einmal der FC St. Pauli mit Winterthur mithalten. Ich lerne bei einem Bier Helge, 49, Stadtplaner, kennen. Er trägt einen Winti-Schal und ist, wie sein Name verrät, Deutscher. Als ich ihm von meiner Aufgabe erzähle, sagt er, als wäre er Albert Camus, verstorbener Philosoph und gleichermassen Fan von Racing Algier und Racing Paris: «Für mich stellt sich die Frage: Was bedeutet Fan sein?»

Er habe schon in Dresden, Berlin und Zürich gelebt, nun in Winterthur. Er war Dresden-Fan, Hertha-Fan, FCZ-Fan, nun eben Winti. Die Frage sei doch: «Wie intensiv bist du Fan einer einzigen Mannschaft, die du dann dein Leben lang begleitest?» – «Hast du denn einen solchen Klub?», frage ich ihn. – «Nein.» Wenn er nach Buenos Aires ziehen würde, würde er dort einen Klub finden. «Man sucht an den Orten, an denen man lebt, um Verbindungen aufzubauen.» Es sei ein integrativer Akt.

Helge ist Pragmatiker. Als ich realisiere, dass ich mir bei meiner Aufgabe ein wenig von seinem Pragmatismus abschneiden muss, um eine Lösung zu finden, macht es erneut kawumm! Mein Schweizer Klub kann keine Herzensangelegenheit sein, sondern eine rationale Wahl. Ich erinnere mich an die Worte meines Fussballtherapeuten, er sprach von der «Illusion der Liebe».

Einen Moment später bricht es daher wenig sachlich aus mir heraus, ich sage zu Helge: «Die können mich alle mal!» Ich meine damit die verbliebenen Vereine St. Gallen, Servette, Lugano. Ich möchte nicht Stunden im Zug sitzen, um in ein Stadion zu gelangen, ich suche keinen Aufwand, sondern Nähe. Bleiben also zwei übrig.

Warum nicht der Arbeiter-FCZ? Wäre ich nochmal 17, wäre er es. Aber mich zieht es weg von Radau machenden Fans zum behaglichen, doch stets existentiellen Winti-Moment, the FCZ-kids are alright, aber ich lass sie spielen.

Auf dem Winti-Hügel halte ich vor Helge und meinem Winti-Freund in der Tasche etwas versteckt, einen von meiner Tante selbst gestrickten rot-weissen Bayern-Schal. Ich ahnte, dass die Wahl heute auf Winti fallen könnte. Umgebunden habe ich ihn mir nicht. Es hätte sich nicht richtig angefühlt, obwohl es die gleichen Farben sind, es keinem ausser mir aufgefallen wäre. Ein Fanherz ist irrational. Ich habe mir daher nun einen zweiten rot-weissen Schal zugelegt.

Marco Maurer hat sich zum Ende der Saison extra für einen ­Aussenseiter entschieden – nicht ahnend, dass dieser zur neuen ­Saison meist gewinnt und gewinnt.

Hier geht es zum Text beim Magazin der NZZ am Sonntag.