Süddeutsche Zeitung
Nummer 13 lebt
Als der Bär im April dieses Jahres die Stelle im Unterengadin erreicht hatte, die er erreichen wollte, war er zu seinem Unglück nicht allein. Ein Hobbyfilmer stellte ihm nach und ließ sein Video dem Schweizer Boulevardmedium Blick zukommen. Zu sehen war der Bär, wie er in Richtung einer menschlichen Ansiedlung im Tal blickte. Kurz darauf hieß es: „Der Braunbär treibt im Unterengadin sein Unwesen. Er zerstört Bienenhäuschen und jagt deutsche Touristen.“
Willkommen in Graubünden, M13!
Tal der Bären wird das Val S-Charl inzwischen bereits genannt. Seit 2005 ist beinahe jährlich ein Bär auf Durchreise. Begonnen hat es mit JJ2. Damals titelte der Boulevard: „Wir sind wieder Bär.“
Geendet hat die Geschichte weniger euphorisch, der Verbleib des ersten Schweizer Bären seit mehr als 100 Jahren ist ungeklärt. Nicht wenige glauben, dass ein rachsüchtiger Schäfer einen Wilderer engagiert hat. Der Kopf des Tiers wird wohl in irgendeiner Stube hängen. Bären verschwinden nicht einfach so.
Seither suchten mindestens sechs weitere Bären das Gebiet zwischen Scuol und S-Charl heim, und alle kamen sie wie auch der 2006 in Deutschland unter dem Namen Bruno bekannte JJ1 aus dem Nationalpark Adamello-Brenta im Trentino. Ende der Neunzigerjahre wurden dort zehn Bären, ursprünglich aus Slowenien, wiederangesiedelt. Mittlerweile leben etwa 40 Tiere in dem Gebiet. Und da junge Bären sich auf Wanderschaft begeben, eine Heimat oder eine Bärin suchen, kommen sie fast immer durch das zwischen dem italienischen Vinschgau und dem Bündner Val Müstair liegende Seitental Val S-Charl. Auf diesem Weg kollidieren sie unweigerlich mit der Moderne. Mit Autos, Eisenbahnen, Blitzlichtern, sogenannten Bären-Vergrämungs-Eingreiftruppen und ihren Gummigeschossen, dem Journalismus und dem Tourismus und den Erschaffern dieser Dinge selbst: mit den Menschen.
Curdin Florineth, der Wildhüter für diese Gegend, ist mit seinem olivgrünen Jeep unterwegs in Richtung des Tals. Die Clemgia, ein Nebenarm des Inns, schlängelt sich durch die Schlucht, als wolle sie eine Rolle in einem Western ergattern. Geröllpassagen, lichte Nadelwälder, die immer wieder einen Blick auf den Piz Pisoc, einen Dreitausender, freigeben. Auf der linken Seite sind Steinböcke zu sehen, rechts hin und wieder Hirsche. Und mitten über die Straße liefe, wäre er heute hier, M13.
„Die Bären aus dem Trentino spazieren immer hier entlang. Ist doch am gemütlichsten, oder?“, fragt Florineth. Dann sagt er, früher habe ein Bär ein Geheimnis des Engadins bleiben können, „heute aber gibt es Youtube“. Die Art und Weise einer Sichtung, sagt er, sei maßgebend für den Verlauf eines Bärenlebens: „Ein Film im Internet ist, wie wenn man Benzin ins Feuer kippt.“ Früher hat man die Tiere mit Gewehren erlegt, heute rückt man ihnen mit Autofokus und Aufmerksamkeit zu Leibe. Viele sagen: Diese Öffentlichkeit führe über kurz oder lang zum Tod der Tiere. Florineth nennt es „die Bärendynamik“. M13 hat so gesehen ohnehin schon lange durchgehalten. Er ist der Popstar unter den Schweizer Bären der vergangenen Jahre. Nicht nur, weil er die Kollision mit einer Lok der Rhätischen Bahn überlebt hat. Er half sogar, einen Mordfall zu lösen: In einer entlegenen Ecke hatte der Bär einen Baum zu Fall gebracht. Der fiel auf eine Stromleitung, weswegen die Feuerwehr ausrückte, die dann eine Leiche entdeckte. Seit einer Stippvisite nach Südtirol heißt M13 dort Kommissar Petz. Zuvor hatte er, wie eine Bündner Zeitung wusste, einen deutschen Lokalpolitiker „verfolgt“, was Florineth zum Lachen bringt. Der Politiker habe ihm nach seinem Urlaub geschrieben, dass er überrascht sei, wie die Medien das Tier verteufelten. Jedenfalls sei er nie von M13 verfolgt worden.
Der Wildhüter zieht die Handbremse. Ankunft am Fuße des Piz Pisoc. Etwa einmal wöchentlich ist er hier, um Wild zu beobachten, zu zählen und zu kontrollieren. Hier gibt es auch einen Bärenpark, ein hübsches Areal mit hölzernen Bärenskulpturen und einem Bärenmuseum, in dem Touristen mehr über die Tiere erfahren können. An der Kasse sitzt ausgerechnet eine Frau namens Ursina – das rätoromanische Wort für Bärin. Ganz in der Nähe ist M13 Florineth erstmals begegnet. Bei seiner Hündin Aika, einer steirischen Rauhaarbracke, hat das einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Vor einer mächtigen Figur im Park verlangsamt Aika ihr Tempo, ihr Körper spannt sich an, sie bewegt sich in enger werdenden Kreisen um den Bär, knurrt. Näher als drei Meter traut sie sich nicht heran, knurrt wieder. „Aika, das ist ein Holzbär“, ruft Florineth.
M13 verwirrt also nicht nur die Menschen in diesem Tal. Dabei ergeht es dem Bär ein wenig wie deutschen Steuersündern in der Schweiz. Er ist erwünscht und unerwünscht zugleich. Die Touristen mögen ihn meist, so ist der Plüschbär das beliebteste Souvenir im nahen Nationalpark. Doch vielen Schafhaltern, Imkern oder Pilzsammlern wird es beim Gedanken an den Bär weniger warm ums Herz. Derzeit ist M13 in einem Tal im Süden Graubündens, im Puschlav, unterwegs. Die Bauern dort sagen, Menschen und Bären könnten nicht zusammenleben, M13 bedeute Ärger und tote Tiere. Etliche unbeaufsichtigte Schafe hat er bereits gerissen. Die „Freunde der Alpen und der Berge“ schrieben einen Brief an die Regierung mit der Bitte um „Beseitigung, Abschuss oder Zurückversetzung“ des Bären.
Die Luft wird dünner. Benjamin Stecher, 65, schnauft schwer. Es geht hinauf in Richtung des Munt da la Bescha, des Schafbergs, drei anspruchsvolle Kuppen auf 2400 Metern Höhe, deren kuscheliger Name Wanderer anlockt. Aber auch Bären sind hier unterwegs. Vor zwei Jahren verlor Stecher am Schafberg 18 seiner Tiere. Dennoch blieb er vernünftig. Sie nennen ihn den Alpmeister. Er sei kein Freund des Bären, sagt Stecher, während er an Bergorchideen, Alpenrosen und Fichtenwäldern vorbeiwandert, „aber wir hier müssen endlich lernen, mit ihm umzugehen“. Auf 2200 Metern Höhe macht er an einer kargen Berghütte halt. Hier übernachtet Reina Gehrig, eine 29 Jahre alte Kunsthistorikerin aus Bern, die gerade ein Freiwilligenprogramm des World Wide Fund For Nature (WWF) durchläuft. Sie ist Hilfshirtin und lebt eine Zeit lang hier, weil M13 oder ein anderer Bär den Schafberg besuchen könnte. Auf dem niedrigsten der drei Hügel öffnet sie ein Gatter. Und da stehen Krabat und Duran, zwei riesige, schneeweiße Hunde, die nicht gerade freundlich wirken.
„Hoi, hoi, hoi!“, ruft Gehrig den Hunden zu. Die Schafe blöken aufgeregt, die Hunde sehen aber nur einen unbekannten Wanderer. Sie knurren, bellen, fletschen ihre Zähne. Den Herdenschutzhunden ist es einerlei, ob ein bärtiger Tourist vor ihnen steht oder ein Bär. Die ihnen anvertraute Herde muss verteidigt werden. Sie schützen so nicht nur die 40 Schafe vor den Bären, sondern bewahren die Bären indirekt auch vor zu viel Aufmerksamkeit, die sie sicherlich bekommen würden, wenn sie Schafe reißen würden. Nur murren jetzt die Touristen, weil die Hunde sie angehen wie den bösen Wolf persönlich.
Nachdem Hunde und Herde mit Futter versorgt sind, steigt Gehrig den Hang wieder hinab. Sie wisse nicht, sagt sie, ob das mit den Bären, den Bauern, den Schafen und den Touristen auf Dauer gutgehen werde. Zurück an der Holzhütte sagt Benjamin Stecher: „Wir wollen beweisen, dass man mit dem Bär leben kann.“ Wenn eine Koexistenz tatsächlich möglich sei, dann sei man sehr dafür, dass die Bären sich hier niederlassen, heißt es seitens des Tourismusamtes Graubünden. Noch aber nimmt man hier Abstand davon, das Val S-Charl als Tal der Bären zu bewerben, weil die Frage noch nicht beantwortet ist, wie viel Natur im 21. Jahrhundert möglich ist.
Im Besucherzentrum des Nationalparks geht Tags darauf ein Plüschbär über den Ladentisch, und wenn man die Touristin aus Zürich fragt, warum sie ihn ersteht, sagt sie, „weil er herzig ist“. Auf die Frage, ob sie sich dauerhaft einen echten Bären in Graubünden wünscht, antwortet sie: „Wenn er genauso herzig ist, ja.“ Auf der anderen Straßenseite sitzt der Direktor des Parks, Heinrich Haller, in seinem Büro. Er schmunzelt nicht einmal über die Plüsch-Episode. Er sagt, dass es für den Park ein Mangel sei, dass es große Raubtiere wie den Bären hier nicht gebe, es fehle ein entscheidendes Glied in der Kette, ein Symbol der Wildnis – „ein Stück Kanada bei uns“, wie Haller sagt.
Dieses lebendige Stück Kanada streift derzeit rastlos durch Graubünden. M13 wird sich wohl wie seine Brüder in den Vorjahren nicht niederlassen. Experten attestieren ihm „eine charakterliche Schwäche“: Er ist zu wenig scheu, und er begnügt sich nicht mehr mit den Früchten der Wälder. Es zieht ihn zu den Nutztieren der Menschen. Er wurde, wie einst Bruno, vom Bär zum Problembär.
Curdin Florineth schaut durch einen Feldstecher hinauf zum Piz Pisoc: kein Bär, kein Bock zu sehen. Dann deutet er mit ausgestrecktem Zeigefinger zu einer Rinne an der Südflanke des Bergs. Dort endete 1904 eine Hochjagd, und der letzte fest beheimatete Bär der Schweiz wurde getötet. Wie ein Mahnmal liegt die Rinne jetzt da.
Als M13 erstmals in Graubünden entdeckt wurde, hatte er einen freien Blick talabwärts in Richtung Tarasp. Eingesäumt zwischen Kiefern steht dort ein Internat, in dem verhaltensauffällige Kinder leben. „Problemkinder“, wie Ursina, die Frau mit dem Namen einer Bärin, sie nennt, die hier, in der Natur, einen Weg zurück in die Gesellschaft finden sollen. Ob diese auch einen Bären in der Natur akzeptieren wird, ist derzeit offener denn je. Marco Maurer