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Schall und Wahn

Nach dem Ende des Musikfernsehens in Deutschland möchte ZDF Kultur das Segment nun neu erfinden

Die Jugend schaltet nicht mehr den Fernseher ein, heißt es. Die Jugend, heißt es, schaut sich DVDs an oder geht ins Netz, holt sich ihre Pixel-Schnipsel und baut ihr eigenes popkulturelles Dorf – natürlich jeder sein eigenes. Und plötzlich beweist ausgerechnet ein Fernsehsender, also ein uralter Medienträger: So selbständig, so ganz ohne Kurator, geht es doch nicht im Jahr 2011.

Kurator ist das Wort des Jahres, denn die in der Mediengeschäftswelt so genannten jungen Menschen im Alter von 14 bis 49 wollen offenbar doch einen, der sie leitet, der weiß: Hier geht’s lang, dort solltest du eigentlich gerade sein!

30 Jahre nach dem Sendestart von MTV, 15 Jahre nach dem schleichenden Tod des Musikfernsehens in den 90er Jahren und acht Monate nach der Emigration des deutschen MTV-Ablegers in die Nische Pay-TV, bewirbt sich als popkultureller deutscher Meinungsmacher der Bewegtbildsparte ausgerechnet ein öffentlich-rechtliches Angebot aus Mainz: ZDF Kultur.

Das Programm ist wie ZDF Neo und ZDF Info (startet am Montag der kommenden Woche) Mitglied der digitalen Senderfamilie des Zweiten. Das Erstaunliche daran ist jetzt, dass der Nachfolger des Theaterkanals nach nur drei Monaten eine messbare Quote erzielt haben soll. Erste Zahlen will das ZDF in diesem Monat veröffentlichen. Allein auf den Livemitschnitt des Heavy-Metal-Festivals in Wacken wurde mehr als 160 000 Mal zugegriffen. Es ist im August das erfolgreichste Video der ZDF-Mediathek gewesen. Wer hätte gedacht, dass sich ein quasi staatlicher Fernsehbetrieb aufmacht – der in seinem Hauptprogramm ein durchschnittlich fast sechzigjährigs Publikum bedient –, Forum der web- und popkulturell-ausgerichteten Jugend in Deutschland zu werden?

Daniel Fiedler, 44, hat das offenbar gedacht. Fiedler, der als Koordinator auch für das gemeinschaftlich von ARD, ZDF, ORF (Österreich) und SRG (Schweiz) betriebene klassische Kulturangebot 3sat zuständig ist, hat ZDF Kultur mit Wolfgang Bergmann entwickelt, der bald Geschäftsführer von Arte Deutschland wird. Als Fiedler erfuhr, dass MTV sich ins Milieu des Bezahlfernsehens zurückzieht, könnte er gedacht haben: Das Schicksal meint es gut. Er bringt einen mit Gebühren finanzierten Jugendsender in den Markt, und der bisherige Jugendsender, der angenommene Konkurrent, macht sich klein.

Das Konzept und seine Schwerpunkte ergaben sich also wie von selbst: ZDF Kultur bringt vor allem die Livemusik ins Fernsehen zurück. In den vergangenen Sommerwochen holte sich der Sender mit den Übertragungen von beliebten Live-Veranstaltungen (Glastonbury, Roskilde, Melt, Wacken) die nötige Glaubwürdigkeit. Fiedler behauptet: Es gebe „ein Bedürfnis nach dem, was wir machen – seitens des Publikums, der Musikindustrie und der kreativen Szene.“

Fiedler spricht auch von: „Juwelen im Programm“. Er meint zum Beispiel die Show Berlin Live , die Subkultur in den Sender bringen solle. Das Ambiente ist gut gewählt – ein altes Heizkraftwerk in der Köpenicker Straße, worin sonst die Techno-Höhle Tresor beheimatet ist. Bei Berlin live spielen jeweils drei Bands ihre Sets. Das Besondere ist, dass die Bühnen trigonal ausgerichtet sind: Endet das eine Konzert, beginnt umgehend das nächste. Das Publikum tanzt im Dreieck.

Der Berliner Musiker Alec Empire – Gast in einer der Shows – bescheinigte dem Sender, eine „andere Art von Musikfernsehen zu machen“. Kann sein, kann auch sein, dass Mister Empire auch nur höflich war. Den einen oder anderen Kritiker erinnert ZDF-Kultur eher an den 2002 abgeschalteten Musik-Mini Viva 2. Doch das stimmt nicht. Der Punkrock Berlins hätte bei Viva 2 nie Platz gefunden. „Wir berichten nicht, wir inszenieren“, sagt Programmchef Fiedler. Deshalb entstand wohl das inszenierte Gespräch mit dem derzeit angesagten Hip-Hop-Artisten Tyler, The Creator. ZDF Kultur-Mitarbeiter hatte Pressematerial der Agentur des Musikers zu einem launigen Interview gesampelt. Blöd, dass sie vergaßen, den fiktiven Charakter kenntlich zu machen. So was kann Glaubwürdigkeit kosten.

Auf der ZDF-Kultur-Pinnwand bei Facebook hat allerdings niemand gemeckert. Das könnte daran liegen, dass Teens und Twens heute in einer netzwerkgesteuerten digitalen Medienöffentlichkeit mit den dort beinahe institutionalisierte Formen von falscher Identität und gefakter Nachricht eher spielerisch umgehen. Und so wird gelobt. „Endlich lohnt sich der Digital-Receiver“, schreibt eine Userin. „Wer braucht schon MTV, wenn ZDF-Kultur jede Menge geile Live-Musik zeigt!“, meint ein anderer. Und wieder ein anderer postet: „Gebühren zahlen macht wieder Sinn.“ Eine irgendwie analoge Jubelarie.

Mit Sendungen wie zdf@bauhaus oder TV Noir ist ZDF Kultur sehr fein aufs Zielpublikum justiert. Besonders hervorgehoben wird Der Marker der angeblich „popkulturelle Gegenpol“ zur Tagesschau um 20 Uhr. So etwas Monströses hat man sich nicht vorstellen wollen. Dass Der Marker in seiner exponierten Stellung zu selten funktioniert, ist ein Konstruktionsfehler. Man versteht es oft nicht. Rainer Maria Jilg, einer der Moderatoren, sagt: „Wir haben uns vorgenommen, nicht zu bemutternd zu sein. Wir gehen eher davon aus, dass die Leute uns verstehen.“ Wenig erklären, auf die Kraft des Inhalts setzen: Wenn nur der öffentlich-rechtliche Fernsehfilm überwiegend genau so ausgerichtet wäre.

Nach dem Ende von MTV und mit Einführung des Web-2.0-Standards glaubte man, den VJ, den Videojockey, würde es nicht mehr lange geben. Jilg und seine Kollegen Jo Schück, Nina Sonnenberg und Lukas Koch widerlegen das. Sie finden eine Sprache zwischen jugendlicher Flapsigkeit und kultureller Genauigkeit, die den Bedürfnissen auch der 30-plus-Generation entspricht. Man kommuniziert im Ton freundschaftlich, nicht von oben herab wie früher mancher MTV-VJ.

Die Personalwahl bei ZDF-Kultur macht nebenbei klar, dass bei der ARD – denn dort lernten drei der vier Moderatoren ihr Handwerk – guter Nachwuchs vorhanden wäre. Er wird nur zu selten eingesetzt in der föderalen Anstalt. Es gibt ja dort noch nicht einmal einen Jugend(kultur)-Kanal wie im Zweiten. Wobei man ganz allgemein problematisieren muss, dass ARD und ZDF glauben, Spartensender wie ZDF Kultur als digitale Plattformen ausgründen zu müssen. Denn bezahlt wird das alles mit Gebühren. Und von den Gebühren, ihrer Erhebung und Bemessung geht eine immer schärfer und emotionaler geführte gesellschaftliche und juristische Debatte aus.

Tatsächlich könnten ARD und ZDF die meisten Inhalte, die ihnen für die gesetzlich erlaubten digitalen Kanäle wichtig sind, auch in den bereits bestehenden Sendern unterbringen und formatieren. Sie könnte das Jugendprogramm außerdem in ihren Mediatheken (kommende Woche soll die Mediathek-App für iPhone und Android erhältlich sein) und auf Online-Portalen verlinken. Warum soll das ZDF nur für das Gefäß ZDF Kultur an einem Kulturbegriff arbeiten, der sich an die Jungen richtet, etwa im Netzkulturmagazin Pixelmacher, bei der Hipster-Show des Vice-Magazins und vor allem beim zdf.kulturpalast?

Neuerdings wird ZDF Kultur stärker auf die „Gaming- und Videospielkultur“ ausgerichtet, sagt Programm-Chef Fiedler. Spiele der Electronic Sports League (ESL) wurden übertragen und Duelle des Counter-Strike-Spiels Source . Source ist ein Ego-Shooter, Ziel ist es, möglichst viele Gegner abzuknallen. Nach dem Attentat von Norwegen wird nun gefragt, ob simuliertes Töten im digitalen Raum ein öffentlich-rechtlicher Kulturauftrag sei? Eine gute Frage. Oder muss ein popkulturelles Dorf vielleicht dunkle Ecken haben? Am Ende handelt es sich bloß um eine: Jugendsünde. Marco Maurer