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„Mein Aufstieg war möglich, aber zu schwer“

Bildungschancen sind in Deutschland ungerecht verteilt. Sieben prominente Bildungsaufsteiger, so etwa Frank-Walter Steinmeier, Cem Özdemir und Pinar Atalay, erzählen, wie sie es dennoch schafften.

Vor zwei Jahren erschien eine ZEIT-Titelgeschichte (Nummer 05/2013) namens „Ich Arbeiterkind“. Der Text erzählte von einem Schulsystem, in dem die Chancen ungerecht verteilt sind. Er zitierte Studien, die belegen, dass Kinder von Nichtakademikern viel seltener eine Universität besuchen als Kinder von Akademikern. Und er handelte auch von mir und meinen Erfahrungen als „Arbeiterkind“, als Sohn einer Friseurin und eines Kaminkehrers.
Über 400 Leser haben mir aufgrund des Artikels Briefe geschrieben. Der Tenor der meisten lautete: „Mir ging es damals genauso“, oder: „Mir geht es derzeit genauso.“ Diese Briefe waren der Grund, wieso ich mich entschloss, der Frage nachzugehen, ob wir in einem ungerechten Land leben. Aus der Suche nach der Antwort ist ein Buch entstanden: „Du bleibst, was du bist“ (Verlag Droemer). Im Zuge meiner Recherchen habe ich mich mit den Leserbriefschreibern und Experten, mit Schülern und Lehrern getroffen. Aber ich habe auch mit prominenten Bildungsaufsteigern wie Rüdiger Grube und Cem Özdemir geredet. Sie machen eines klar: Wer glaubt, dass die Biografien dieser Prominenten bedeuten, dass ein sozialer Aufstieg durch Bildung jederzeit machbar ist, erliegt einem Trugschluss. Denn wenn es eine Aussage gibt, die alle Protokolle vereint, lautet sie: „Mein Aufstieg war möglich, aber er war zu schwer.“
Mit Blick auf aktuelle Studienergebnisse lässt sich festhalten: Das ist auch heute noch so. Schuld sind nicht nur schulische, sondern auch gesellschaftliche Strukturen. Beides ließe sich ändern – auch darüber sprechen diese Menschen.

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1 – Frank-Walter Steinmeier, Außenminister
Meine Mutter kam als Vertriebene aus Breslau mit nichts als einem Handwagen in Brakelsiek an, einem Dorf im Osten Nordrhein-Westfalens. Mein Vater, ein Tischler, stammt von dort, von einem Bauernhof, der nicht genug zum Leben und nicht genug zum Sterben erwirtschaftete. Insofern sind die beiden mit wenig in die Welt entlassen worden. Das Ergebnis dieses Lebensweges war der Satz: „Unsere Kinder sollen es einmal besser haben.“ Meine Eltern hatten verstanden, dass Bildung eine Voraussetzung dafür ist, um erfolgreich im Beruf und in der Welt unterwegs sein zu können. Sie haben nicht nur viel Wert darauf gelegt, dass ihre beiden Kinder, mein Bruder und ich, die Grund- und Hauptschule besuchen, sondern auch dabei geholfen, den Weg in die Oberschule zu finden.
Leute, die sich zu einer höheren Schulbildung durchkämpfen mussten, haben oftmals auch sonst gelernt, zu kämpfen und bestimmte Dinge nicht als selbstverständlich hinzunehmen. Man fällt nicht gleich beim ersten Windstoß um. Allerdings haben sie möglicherweise ein größeres Bedürfnis nach Sicherheit. Ich habe Jura studiert, ein „Brot-und-Butter-Studium“, eigentlich waren meine Neigungen zur „Juristerei“ damals nur wenig ausgeprägt.
Die SPD war in den sechziger und siebziger Jahren maßgeblich daran beteiligt, dass Arbeiterkinder wie ich an die Uni gelangten. Deswegen glaube ich, dass es Willy Brandt genauso wie mich schmerzen würde, dass in Deutschland auch heute noch die soziale Herkunft über den Bildungsweg entscheidet. Wenn drei von vier Kindern den Bildungsabschluss ihrer Eltern nicht übertreffen, dann ist klar, dass hier irgendetwas schief läuft. Das ist ein unerträglicher Zustand.
Bildungsgerechtigkeit ist und bleibt eines der bedeutendsten Themen der Sozialdemokratie, unabhängig davon, ob wir damit Wahlen gewinnen oder nicht. Bei der vergangenen Bundestagswahl stand Bildung ganz oben auf unserer Agenda. Es ist kaum ein Tag vergangen, an dem wir nicht über Bildung gesprochen und unsere Politik dazu vorgestellt haben. Aber über solche Themen werden offensichtlich keine Wahlen entschieden. Unsere Vorschläge sind knallhart abgewählt worden.
Wir müssen also jenseits von Parteienpolitik – die einen sind für Steuersenkungen, die anderen für Steuererhöhungen – in einen gesellschaftlichen Selbstverständigungsprozess kommen, in dem wir uns darauf einigen, dass die Bereitschaft, Opfer zu bringen, wachsen muss, damit wir eine noch bessere Bildung für alle haben. Die Gesellschaft muss sich entscheiden, ob sie bereit ist, mehr Geld in Bildung zu investieren. Ich glaube, dass das notwendig ist.
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Der SPD-Politiker Frank-Walter Steinmeier ist deutscher Außenminister.
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2 – Martin Roth, Museumsleiter
Ich wurde in der Nähe von Stuttgart geboren. Mein Vater stammte aus Niederbayern und war gelernter Elektriker. Meine Mutter war Schneidermeisterin und saß jeden Tag von halb sechs Uhr bis spät in der Nacht an der Arbeit. Manchmal höre ich noch heute das Rattern der Nähmaschine. Der Ort, in dem ich aufwuchs, ist nicht dafür gemacht, Träume zu verwirklichen, obwohl er äußerst idyllisch ist. Er ist als Stammsitz der Firma Bosch bekannt. Das wusste ich damals noch nicht. Aber ich habe mittlerweile erkannt, dass es Strukturen in der Gesellschaft gibt, die sind, wie sie sind. Auch bei mir waren alle Weichen darauf gestellt, dass ich einmal bei Bosch am Band arbeite.
Wenn du da rauswillst, musst du entweder wahnsinnig stark sein oder jemanden haben, der dir hilft. Bei mir waren die Helfer zuallererst meine Eltern. »Du sollst es mal besser haben als wir« war ihr Dauer-Credo. Deswegen schickten sie mich aufs Gymnasium, »eine Schule der guten Gesellschaft«. Dorthin gingen vor allem Kinder, deren Väter bei Daimler-Benz, Bosch oder IBM tätig waren. Und ein, zwei Kinder, die aus dem Raster fielen – Kinder wie ich. Manchmal frage ich mich sogar, ob ich hierhergehöre. Ich spreche noch immer mit erkennbar schwäbischem Akzent und habe nie wirklich versucht, diesen zu verbessern. Obwohl ich weiß, dass Sprache einen sehr reduzieren kann. Mit viel harter Arbeit habe ich dann irgendwann zwar festgestellt, dass ich durchaus erfolgreich bin, in dem, was ich tue. Aber die Ängste, zu versagen, blieben trotzdem immer extrem groß. Manchmal hatte ich auch den Eindruck, dass ich es nicht wirklich verdient habe.
Seit der Schulzeit, wenn etwas nicht so läuft, wie ich mir das vorstelle, denke ich »Martin, das ist dein Fehler!« Wenn ich mich in der Schule nicht konform verhalten habe, ist meine Mutter vom Lehrer einbestellt worden. Sie ist dann ähnlich wie bei Arztbesuchen fast vor Ehrfurcht erblasst. Und ich? Ich habe das gehasst! Ich hasse noch immer Hierarchien. Diese Philosophie prägt bis heute sogar meine Arbeitsweise. Ich lasse meinen Mitarbeitern – allesamt Experten – freie Hand und beobachte aus der Distanz. Ich denke, das liegt an unserer Biografie als soziale Aufsteiger. Entscheider- und Führungspositionen in deutschen Kulturinstitutionen werden wieder vermehrt mit Menschen aus der gesellschaftlichen Elite, mit Kindern von Akademikern, besetzt. Deswegen glaube ich, dass sich unsere Gesellschaft nach einer Periode der sozialen Durchlässigkeit in den sechziger und siebziger Jahren – die mir einst den Aufstieg erleichterte – nun wieder verengt. Erfolgsstorys sind heutzutage wieder family owned sucess stories, also Erfolge, die durch die Beziehungen oder den Geldbeutel der Familie ermöglicht werden. Heutzutage herrscht ein neuer Protektionismus.«
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Martin Roth ist Kulturwissenschaftler und leitet das Victoria and Albert Museum in London
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3 – Cem Özdemir, Politiker
Mein Vater arbeitete in einer Feuerlöscherfabrik, meine Mutter als Änderungsschneiderin in Bad Urach. Als ich in die erste Klasse ging, sprach ich zwar das Schwäbisch, das ich bei meinen Tageseltern und auf der Straße gelernt hatte, aber mein Schriftdeutsch war katastrophal. Vielleicht lag das auch daran, dass der Fernseher, wie in vielen Familien, auch bei uns manchmal wie ein weiteres Familienmitglied behandelt wurde.
Bereits in der ersten Klasse sagte meine damalige Grundschullehrerin auf einem Elternabend zu meiner Mutter: »Beim Cem ist es doch egal, ob der sitzen bleibt oder nicht. Den schicken sie sowieso zurück in die Türkei.« Meine Mutter war völlig hilflos in dieser Situation. Aber sie hatte das Glück, einen überzeugten Sozialdemokraten zum Nachbarn zu haben. Der war empört über den Vorfall, sprach mit meiner Lehrerin und überzeugte sie davon, mich doch in die zweite Klasse zu versetzen. Als ich später in der vierten Klasse meinen Wunsch äußerte, aufs Gymnasium zu gehen, lachte mich mein Lehrer vor versammelter Klasse aus.
Im Gegensatz zu vielen meiner Mitschüler musste ich nach der Grundschulzeit auf die Hauptschule. Ich war von meinen Freunden getrennt und habe mich anfänglich dafür geschämt. Doch dann traf ich erneut auf engagierte Menschen, die mich unterstützten. Ohne die hätte ich meinen Weg so nicht gehen können – solche Menschen sind nötig für einen sozialen Aufstieg. Diese Lehrer, Nachhilfen und Nachbarn haben mich früh in meinem politischen Interesse unterstützt und mir food for thought, Gedankenfutter, geliefert.
Ich habe aufgrund meines Lebenswegs ein anderes Umfeld als viele meiner Politikerkollegen. Deren Eltern sind oftmals Juristen, Professoren oder Architekten. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie sagen: »Mein Vater ist Chefarzt an einem Krankenhaus, und ich frage ihn mal um Rat«, die hat mich manchmal schon beeindruckt. So etwas konnte ich aufgrund meiner Biografie nicht aufbieten. Umso mehr weiß ich zu schätzen, was meine Eltern unter schwierigen Umständen in ihrem Leben geleistet haben.
Ich kann gut verstehen, dass sich Leute, die aus einem ganz bestimmten Milieu kommen und sich mithilfe von Bildung in ein anderes Milieu hochgearbeitet haben, schwertun. Daran kann man auch scheitern, weil es schwierig sein kann, die verschiedenen Lebenswelten zusammenzubringen. Das fängt schon damit an, dass man seiner Mutter erklären möchte, was man macht, und es der eigenen Mutter schwer zu erklären ist, worin der Broterwerb besteht. So etwas kann Spuren hinterlassen. Auch ich hatte diesen Übergang zwischen meinem früheren und meinem heutigen Leben. Das war ein harter Bruch.
Andererseits schadet es der sozialen Kompetenz keineswegs, wenn man im Laufe seiner Biografie Einblicke in verschiedene Lebenswelten bekommen hat. Ich habe gute Antennen entwickelt, um zu kapieren, warum Menschen so oder anders ticken. Und bei manchen Aussagen von politischen Entscheidungsträgern glaube ich zu merken, dass sie anders sozialisiert sind und ihnen deshalb bisweilen eine gewisse Empathie fehlt, wenn es um Identität, Vielfalt und ein Gefühl für Ungerechtigkeiten geht.
Das Label Gastarbeitersohn hat mich immer begleitet und wird mich immer begleiten. Aus diesen Erfahrungen weiß ich: Wir brauchen eine chancengerechte Schule. Die theoretische Erkenntnis, dass unser Bildungssystem zu viele Verlierer produziert, hat sich zwar parteiübergreifend durchgesetzt. Doch bei der praktischen Umsetzung sind wir erst mittendrin. Grundsätzliche Reformen wie die ganzheitliche Abschaffung des Kooperationsverbots dürfen nicht mit 51 gegen 49 Prozent durchgesetzt werden, sondern müssen möglichst breite Mehrheiten bekommen. Es geht da schließlich um den Bildungsbereich und damit um die Zukunft von Menschen und die unseres Landes.
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Cem Özdemir ist Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen. 1994 zog er als einer der ersten Abgeordneten türkischer Herkunft in den Bundestag ein
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4 – Elsbeth Stern, Psychologie-Professorin
Ich bin auf einem Bauernhof in Nordhessen aufgewachsen. Meine Eltern mussten immer hart arbeiten, da die Landwirtschaft nicht vom wirtschaftlichen Aufschwung der 1960er Jahre profitierte. Im Gegenteil: Ein Hof, der ein Jahrzehnt zuvor einer Großfamilie mit Bediensteten ein vergleichsweise komfortables Auskommen bot, reichte kaum noch für eine Kleinfamilie. Für meine Eltern gab es also Wichtigeres als die Frage, auf welche weiterführende Schule ihre Tochter gehen sollte. Es war ja schon mit Aufwand verbunden, in die nächste größere Stadt zu gelangen, wo das Gymnasium sich befand. Außerdem war es in unserem kleinen Ort sowieso nicht selbstverständlich, dass ein Mädchen aufs Gymnasium ging. Das galt auch für mich, obwohl ich eine entsprechende Empfehlung meines Lehrers hatte.
Letztlich war es meine Tante, die meine Eltern überzeugte, dass es sich lohnen könnte, die Tochter auf das Gymnasium zu schicken.
Anfangs war ich eine eher mittelmäßige Schülerin, später waren meine Noten ziemlich gut. Ich fing an, viel zu lesen. Schon als Teenager wollte ich wissen, ob man wissenschaftlich herausfinden kann, wie Menschen denken und lernen. Warum es bei manchen schneller geht als bei anderen. Als ich mitkriegte, dass so etwas in der Psychologie erforscht wird, habe ich mich dazu entschieden, dieses Fach zu studieren – obwohl ich nie zuvor einen Psychologen kennengelernt hatte.
Intelligenz und ihre Messung hat mich schon zu Beginn meines Studiums interessiert. In meiner Forschung habe ich mich dann auf die Beziehung von Intelligenz und Lernen konzentriert: Wer nutzt welche Bildungschancen? Da lässt sich ein Bezug zu meiner Lebensgeschichte herstellen: In meiner Generation gab es trotz einiger Widrigkeiten die Möglichkeit, als Bauernkind aus Nordhessen Professorin an der ETH Zürich zu werden. Ob das heute noch möglich wäre?
Aus einer größeren Studie wissen wir, dass Kinder aus der oberen sozialen Schicht mit einem Intelligenzquotienten von unter 100 Punkten mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent eine Empfehlung für ein Gymnasium erhalten. Dagegen wird ein Kind aus der unteren sozialen Schicht mit der gleichen 50-prozentigen Wahrscheinlichkeit erst mit einem IQ von über 115 Punkten fürs Gymnasium empfohlen. Ist das nicht ein Skandal?
Wenn Intelligenz sich nicht durchsetzt, bekommen wir Probleme. Bei mancher Hausarbeit frage ich mich schon, wie die Leute an die Uni kommen konnten. Da werden Menschen durch die Schule und an die Universität geschleust, die vielleicht einen Abschluss hinkriegen, aber trotzdem nicht kompetent sind. Gleichzeitig haben andere das Potenzial für ein Studium, bekommen aber keine Möglichkeit. So wird in Gymnasien und Universitäten der Grundstein dafür gelegt, dass in gesellschaftlichen Entscheidungspositionen nicht die Intelligentesten und Kompetentesten sitzen.
Heute lebe ich in Zürich. Die Eltern, die hier todunglücklich sind, wenn ihre Kinder keine Gymnasialempfehlung bekommen, sind selten Schweizer, aber häufig Deutsche. Ich habe Schweizer Professorenkollegen, deren Kinder nicht aufs Gymnasium gehen, sondern eine Lehre beginnen. Das ist völlig in Ordnung für sie – hier herrscht eine andere Tradition.
Wenn wie in Deutschland bei zehnjährigen Kindern über deren weitere Bildungskarriere entschieden wird, ist das ein massiver Eingriff. Natürlich nicht ganz so schlimm wie in anderen Kulturen, wo manchmal Kinder dieses Alters zur Heirat gezwungen werden. Aber trotzdem: Die Intelligenz eines zehn Jahre alten Kindes hat sich noch nicht ausreichend stabilisiert und in Kompetenzen umgesetzt. Wollen wir da wirklich ein solches Urteil fällen?
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Elsbeth Stern ist Psychologin und Professorin für Lehr- und Lernforschung an der ETH Zürich
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5 – Nina Sonnenberg, Rapperin und Moderatorin
Mein Karriereweg verlief nicht besonders geradlinig. Zwar habe ich mein Abitur abgelegt, aber danach wusste ich nicht was ich tun sollte. Meine Mutter war Sekretärin, mein Vater ein gelernter Kaufmann, der lange im Wollhandel gearbeitet hat. Beide haben nicht studiert. Deshalb war es für mich auch keine Selbstverständlichkeit, nach dem Abitur direkt auf die Uni zu gehen. Stattdessen machte ich eine Ausbildung, wurde Verlagskauffrau. Bei meinen Freundinnen aus dem Gymnasium war das anders. Ihre Eltern waren großteils Akademiker. Da war es gar keine Frage, dass die studieren werden.
Weil die Berufsschule so erstickend langweilig war, bin ich oft mit dem Kopf auf dem Tisch eingeschlafen. Und ich habe angefangen Rap-Texte zu schreiben. Zu den Freundinnen aus dem Gymnasium riss der Kontakt aber nicht ab und ich stellte fest, dass ich mit den gleichen Ansprüchen und Erwartungen groß geworden bin. Wir sind alle zusammen in München-Großhadern aufgewachsen. Und wenn wir zusammen waren, dann war klar, dass wir lasen und über bestimmte Themen sprachen, über die bei mir zu Hause nicht gesprochen wurden. Auf eine gewisse Art wollte ich also mithalten mit meinen Freundinnen. Dazugehören. Das war mein erstes Glück. Mein zweites Glück war, dass meine Eltern ein Grundvertrauen in mich gesetzt haben. Die haben mich machen lassen. Außerdem habe ich einen unglaublichen Ehrgeiz.
Dass ein Bildungsaufstieg gelingt, ist in unserem Bildungssystem oft eher von Zufällen geprägt. Sehr viele kluge Köpfe werden bei uns gar nicht erst entdeckt, weil man ihnen nicht zeigt, was möglich sein könnte. Es fehlt ihnen schlichtweg die Motivation von außen. Ich würde mir da mehr wünschen. Auch wenn ich weiß, dass das schwierig ist, wenn die Eltern diesen Weg nicht selbst gegangen sind.
Meine Musik soll dazu motivieren, sein eigenes Ding zu machen. So möchte ich sie verstanden wissen. In meinem Song Papa&Mama besinge ich eine Art von Sozialneid. Wenn man nicht aus einer akademischen Familie kommt, sieht man Kinder von wohlhabenden Eltern, die tolle Auslandssemester machen. Zumeist haben ihre Eltern ähnliche Erfahrungen auf Lager, und motivieren die Kinder zum Schritt ins Ausland. Man erfährt, dass die Sache mit dem Vitamin B kein Märchen ist, sondern jeden Tag stattfindet. Dass andere schneller an Jobs kommen, weil Papa oder Mama jemand kennt. Das war bei mir nie so. Und es hat mich manchmal an den Rande der Verzweiflung getrieben. Viele Sachen habe ich gar nicht erst probiert, weil ich dachte, das führt bei mir zu nichts. Ich bin zum Beispiel nie ins Ausland gegangen. Wenn jemand in meiner Familie gewesen wäre, der gesagt hätte, „Nina, das solltest du aber unbedingt machen“, das wäre sehr hilfreich gewesen. Mir fehlten Menschen, die diese Erfahrungen gemacht hatten. Meine Eltern hätten mir alles ermöglicht. Nur kannten sie auch viele Möglichkeiten nicht.
Heute bin ich Rapperin, Moderatorin und Label-Besitzerin. Aber es war ein anstrengender Weg. Ich musste mit einem Rückstand loslaufen. Nach meinem Studium der Soziologie, ich war Anfang dreißig, hatte ich erste Moderatoren-Jobs beim Bayerischen Rundfunk und fünf Jahre später dachte ich schon mal: „Verdammt noch mal, Nina, wieso fühlst du dich jetzt eigentlich, als wärest du 50?“ Ich war wahnsinnig erschöpft und das gerade zu dem Zeitpunkt, an dem der Grundstein für eine gute Karriere gelegt wird. Der Grund dafür war, dass es irrsinnig anstrengend ist, jede Erfahrung selber machen zu müssen. Auf eine Art höhlt man sich aus. Das darf nicht sein! Deswegen ist es wichtig für mich, dass wir es schaffen, dass junge Menschen aus jeder Bildungsschicht motiviert werden ihre Fähigkeiten zu entdecken und sich ihrer Möglichkeiten bewusst werden. Wir brauchen Zeit ihnen zuzuhören, sie zu ermutigen und sie an unseren gemachten Erfahrungen teilhaben zu lassen. Und damit meine ich nicht nur staatliche Rahmenvorgaben. Sondern hoffe auch auf eine durchlässigere Gesellschaft.
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Nina Sonnenberg ist Rapperin (Fiva), Autorin und Moderatorin.
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6 – Pinar Atalay, Moderatorin
Dass ich Abitur machen würde, war immer klar. Als Zweitgeborene hatte ich es etwas leichter. Meine Schwester kam erst über die Realschule auf das Gymnasium. Am Ende aber studierte sie und machte sogar einen Einser-Abschluss.
Meine Eltern kamen als gelernte Handwerker aus der Türkei nach Deutschland. Mein Vater ist Tischler, meine Mutter Schneiderin. Sie mussten hier eine neue Sprache, eine neue Kultur und ein neues Bildungssystem kennen lernen. Da lässt man sich zu Beginn eher mal auf die Empfehlung des Lehrers ein. Nach den Erfahrungen mit meiner Schwester waren meine Eltern selbstbewusster und sagten: „Unsere Tochter geht aufs Gymnasium! Wenn sie es nicht schaffen sollte, kann sie immer noch zurück.“ Und ich blieb.
Ich bin in einem kleinen Ort groß geworden, in einer Siedlung, in der alle Schichten der Gesellschaft lebten: Lehrer, Arbeitslose, Banker, Arbeiter. Alle Kinder des Dorfes gingen in dieselbe Grundschule. So bin ich in keinem bestimmten Milieu groß geworden, sondern lernte unterschiedliche Lebensmodelle kennen. Das würde ich mir auch für heutige Kinder wünschen. Gerade in Großstädten, wo immer mehr Menschen aufgrund der steigenden Mieten an die Stadtränder gedrängt werden.
Nach meinem Abitur war ich unsicher, wo es beruflich hingehen soll. Ob ich studieren will. Deswegen habe ich erst einmal in Lemgo ein Mode-Geschäft eröffnet. Das hieß rund ein Jahr lang: Sechs-Tage-Woche, lange Arbeitstage, verkaufen, neue Ware einkaufen, den Laden sauber halten. Das war zwar anstrengend, aber ich wurde finanziell unabhängig und lernte Verantwortung zu übernehmen. Bereits mit 19 Jahren entschied ich mich für den Journalismus. Ein Radiosender übernahm mich nach kurzer Zeit als Volontärin.
Ich hätte die Möglichkeit gehabt zu studieren, aber ich präferierte Learning by doing und profitierte immer von meiner langjährigen Berufserfahrung. Diese Wahlmöglichkeit sollte jeder haben. Allerdings denke ich, dass Kinder, die nicht aus privilegierteren Familien stammen, meist weniger finanzielle Möglichkeiten haben, weniger gefördert werden, weniger an sich glauben. Sie müssen für viele Dinge viel mehr Kraft aufbringen. Dafür sind wir auch selbstständiger.
Es war nicht meine bewusste Entscheidung, einen anderen Weg einschlagen zu wollen, als den meiner Eltern. Meine Interessen lagen einfach woanders. Meine Eltern haben mich gefördert, an mich geglaubt, das war immens wichtig. Der eigene Weg sollte nicht vorgezeichnet sein, es sollte nicht überraschen, dass eine Journalistin aus einer Arbeiterfamilie kommt. Oder, dass ein Kind, dessen Eltern nicht in Deutschland geboren wurden, jetzt mit deutscher Sprache arbeitet. Warum nicht?
Kürzlich traf ich auf einer Veranstaltung einige Hauptschülerinnen – mit und ohne ausländische Wurzeln. Ein Mädchen erzählte mir, dass sie sich um ihre Geschwister kümmert, einkaufen geht und für ihre Eltern Behördengänge erledigt. Besonders Letzteres musste auch ich häufig machen. Dem Mädchen aber fehlt dadurch die Zeit zum Lesen und Lernen, deshalb ist sie auch in der Schule nicht gut. „Mich fragt aber in der Schule keiner danach, warum das mit den Noten nicht so klappt“, sagte sie zu mir.
Solche Kinder müssen besser gefördert werden. Deutschland ist ein wohlhabendes Land, es geht eher um die Verteilung der Gelder. Bildung selbst ist immer förderungswürdig, ein sehr wichtiger Faktor für unser Land, in dem es noch mehr Chancengerechtigkeit geben kann. Es darf nicht zählen wo ich herkomme, sondern was ich daraus machen kann.
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Die Journalistin Pinar Atalay arbeitet als Hörfunk- und Fernsehmoderatorin.
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7 – Rüdiger Grube, Vorstandvorsitzender der Deutschen Bahn
Ich stamme von einem Bauernhof im Alten Land in der Nähe von Hamburg und habe lange in sehr einfachen Verhältnissen gelebt. Mein Bruder und ich mussten von Anfang an auf dem Hof mit anpacken. Meine Eltern trennten sich leider, als ich gerade fünf Jahre alt war. Meine Mutter zog uns allein groß und brauchte jede Hilfe.
Schule war immer nur lästige Pflicht. Meine Begeisterung für das Lernen habe ich erst spät entdeckt, als Teenager. Damals träumte ich davon, Pilot zu werden. Als meine Tante davon erfuhr, lachte sie mich aus und sagte mir am Mittagstisch: »Dazu brauchst du Abitur. Das schaffst du nie.« Dieser Satz ist lange ein Ansporn für mich gewesen, eigentlich ist er das bis heute.
Nach neun Jahren Hauptschule wechselte ich auf die Realschule und machte dann eine Lehre zum Metallflugzeugbauer bei einem Tochterunternehmen von Blohm & Voss. Damals arbeiteten 60 000 Menschen für den Konzern. Während meiner Ausbildungszeit habe ich für unsere Betriebszeitung einen Artikel zum Thema Organspende geschrieben. Helen Blohm, die Frau des Inhabers, las meinen Artikel und lud mich zu sich ins feine Blankenese ein.
Die Blohms hatten ein behindertes Kind und waren deswegen von meinem Artikel angetan. Helen Blohm fragte mich nach meinen Zukunftsplänen. Ich antwortete, dass ich gerne Pilot werden wollte oder ein Flugzeugbaustudium aufnehmen würde, mir aber das Geld dazu fehle. Wenige Tage später rief mich ihr Mann, mein oberster Chef, an und fragte, ob ich mit 300 D-Mark im Monat auskommen würde für mein Studium. Das war für mich der Start in eine neue Welt.
Aufgrund meiner Herkunft habe ich kein Humboldtsches Bildungsideal genossen und stelle immer wieder fest, dass Leute, die auf dem normalen Weg das Abitur gemacht haben, ein wahnsinnig breites Allgemeinwissen haben. Dieses Wissen musste ich mir extrem hart erarbeiten. Menschen, die einen Bildungsweg wie ich haben, müssen viel Energie und Kraft aufwenden, um diesen Weg zu gehen. Du musst deinen Schulabschluss nachholen und studieren und dir gleichzeitig durch Arbeit den Lebensunterhalt erkämpfen. Das ist eine enorme Belastung. Du bekommst wenig Schlaf und musst immer einen Gang schneller hochschalten als andere. Dass dabei auch mal ein Zustand der Erschöpfung eintritt, kann ich gut verstehen.
Nach meinem ersten Studium, mit 26, habe ich das zu spüren bekommen. Ich hatte mich übernommen. Ich wollte alles auf einmal nachholen, und da sagte mein Körper einfach: Stopp, bis hierhin und nicht weiter! Damals habe ich begonnen, viel Sport zu machen, um mich zu regenerieren. Meine Liebe zum Halbmarathon ist in jener Zeit entstanden.
Junge Menschen brauchen eine Chance, ganz unabhängig davon, wo sie herkommen. Ich bin selbst nach meinem Studium für kurze Zeit Lehrer gewesen. Deswegen weiß ich, dass man unser Schulsystem viel besser gestalten könnte. Unsere Schulen müssen ganzheitlicher qualifizieren. Da sind andere Länder viel weiter. Das ist ein Grund, weswegen wir bei der Deutschen Bahn als eines der ersten Unternehmen in Deutschland alle Bewerber auf Ausbildungsplätze zu einem Onlinetest einladen, egal, welche Schulnoten sie haben. Denn wir glauben daran, dass soziale und kognitive Kompetenzen für einen erfolgreichen Berufsweg entscheidend sind. Im vergangenen Jahr haben wir so etwa 3700 Menschen eingestellt.
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Rüdiger Grube ist seit 2009 Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bahn AG. Vorher war er unter anderem für Daimler-Chrysler tätig
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von Marco Maurer