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Die Wutbremsen

Als Spitzenpolitiker muss man in Deutschland heute schon viel aushalten. Aber wie ist das erst für diejenigen, die Tag für Tag die erste Welle von Zorn, Enttäuschung und Empörung brechen? In den Vorzimmern der Mächtigen lernt man, wie man mit Verschwörungstheoretikern und besorgten Bürgern umgeht ohne dabei den Verstand zu verlieren. NEON hat Social-Media-Manager und Büroleiter der großen Parteien an einen Tisch gesetzt.

Als Spitzenpolitiker muss man in Deutschland heute schon viel aushalten. Aber wie ist das erst für diejenigen, die Tag für Tag die erste Welle von Zorn, Enttäuschung und Empörung brechen? In den Vorzimmern der Mächtigen lernt man, wie man mit Verschwörungstheoretikern und besorgten Bürgern umgeht ohne dabei den Verstand zu verlieren. NEON hat die Social-Media-Manager und die Büroleiter der großen Parteien an einen Tisch gesetzt.

AXEL TANTZEN, CDU, Büroleiter Peter Tauber
Bürgerzuschriften pro Monat: 1200
Facebook-Follower: 27 725
Twitter-Follower: 106 000
PATRICK TELLIGMANN, Die Grünen, Social-Media-Beauftragter Katrin Göring-Eckardt
Facebook-Follower: 25 202
Twitter-Follower: 61 700
KATRIN GROTHE, FDP, Büroleiterin Christian Lindner
Bürgerzuschriften pro Monat: 1800
Facebook-Follower: 76 676
Twitter-Follower: 69 000
FRIEDRICH HILSE, AfD, Mitarbeiter Beatrix von Storch
AXEL TANTZEN, CDU, Büroleiter Peter Tauber
Bürgerzuschriften pro Monat: 1000
Facebook-Follower: 63 371
Twitter-Follower: 10 900
TOBIAS NEHREN, SPD, Social-Media-Chef des Parteivorstandes
Facebook-Follower: 114 939
Twitter-Follower: 237 000
SANDY STACHEL, Die Linke, Büroleiterin Sahra Wagenknecht
Bürgerzuschriften pro Monat: 2800
Facebook-Follower: 291 303
Twitter-Follower: 105 000

Wer meldet sich eigentlich bei ihnen?
 Nehren:  Manchmal rufen Bürger an und sagen völlig unvermittelt: „Richten Sie dem Sigmar Gabriel aus, ich habe einen Vorschlag für ihn, ändert diesen oder jenen Paragrafen“, und das in einem Ton, als sprächen sie mit einem Bekannten. Eine Woche später rufen sie wieder an und fragen, was Sigmar Gabriel denn zum Vorschlag gesagt habe.
 Stachel:  Wenn Frau Wagenknecht im Bundestag eine Rede hält, klingelt oft bereits vor Ende des ersten Satzes das Telefon, und die ersten Mails gehen ein, in Extremfällen bis zu 1400. Manchmal bitten die Leute auch um Reisetipps, wollen Frau ­Wagenknecht zu einer privaten Geburtstagsfeier einladen oder ihr einen Heiratsantrag machen.
 Telligmann:  Ich hatte heute jemanden am Telefon, der hat mir einen ganzen Brief vorgelesen. Er hatte sich offensichtlich vorbereitet, wirkte aufgeregt. Ein guter Indikator ist der Blick aufs Display. Wenn die Nummer unterdrückt ist, kann man sich darauf einstellen, dass man beschimpft wird.

Kommt das oft vor?
 Telligmann:  Häufiger, als uns lieb ist. Katrin Göring-Eckardt hat vor einem Jahr ein Video gepostet und einige widerliche Kommentare vorgelesen. Sie nannte sie „Dreck, der in die Mülltonne gehört“.

Warum hat sie das getan?
 Telligmann:  Die Zuschriften, in denen sie beleidigt oder bedroht wurde, nahmen zu. Wir haben im Team überlegt, wie wir dagegen angehen können, und unsere Idee war, die Leute offensiv damit zu konfrontieren. Die Pöbler sollten sehen, dass hier Menschen sitzen, die ihre Beleidigungen abbekommen.

Wir haben uns vor dem Gespräch die Facebook-Seiten Ihrer Vorgesetzten angeschaut. Bei Katrin Göring-Eckardt stand zum Beispiel: „Eigentlich sollten Sie nur Göring heißen, denn Sie besitzen alle Eigenschaften und die Sprache der Faschisten des Dritten Reiches, ich kann euch Bande gar nicht sagen, wie sehr ich euch verachte.“
 Telligmann:  Ja, ich muss sagen: Es ist schlimmer geworden.
 Grothe (per Skype zugeschaltet): Es gibt schlimme Hasskommentare, ja. Aber ich glaube nicht, dass man daraus Rückschlüsse auf die gesamte Gesellschaft ziehen kann.
 Tantzen:  Das sehe ich komplett anders, Frau Grothe: Bis zum Sommer 2015 waren die Hilfspakete für Griechenland unser beherrschendes Thema. Der Ton war sehr kritisch, aber sachlich. Doch im Sommer 2015 hat sich alles geändert. Als mehr Flüchtlinge nach Deutschland kamen, kippte die Sprache, der Ton wurde deutlich rauer. Darf ich Ihnen ein kleines Best-of des Hasses aus unseren Zuschriften präsentieren?

Bitte.
 Tantzen:  „Stinkende Türkensack-Ratte“, „Volksverräter“, „Schmarotzer“, „Merkellakaien und Speichellecker“, „Obervollarschloch“, „Strick nehmen“, „Adolf hätte eure Eltern ausradieren sollen“.

Wie reagieren Sie ­darauf?
 Tantzen:  Man darf diese Begriffe nicht persönlich nehmen. Meine Lösung: sachlich bleiben. Ich bin selbst Jurist und weiß, viele der Zuschriften sind beleidigend, man könnte sie direkt der Staatsanwaltschaft übergeben.

Machen Sie das?
 Tantzen:  Wir verzichten in der Regel auf Strafanzeigen, weil das nichts bringt. Die Strafverfolgungsbehörden sollen dadurch nicht noch weiter lahmgelegt werden.
 Hilse:  Uns erreichen auch ernst zu nehmende Drohungen. In solchen Fällen stellen wir Strafanzeige, inzwischen laufen einige Verfahren.

Erleben die anderen Parteien diesen Tonfall auch?
Grothe:  Eher selten, bei uns machen negative Zuschriften nicht mehr als 20 Prozent aus. Die Mehrzahl fragt nach Positionen der FDP oder sagt: Bringt doch folgendes Thema mal. Christian Lindner hat vergangenes Jahr in seiner Wutrede darüber gesprochen, wie viel Spott und Häme gescheiterte Unternehmensgründer zu hören bekommen. Seitdem erhalten wir Zuschriften von Leuten, die selbst gegründet ­haben – und uns Beispiele schicken, wie sie mit Bürokratie zu kämpfen hatten. Das ist ein Fundus an Ideen, aus dem wir schöpfen können.
 Stachel:  Anfeindungen oder Drohungen erhalten wir selten. Die meisten Zuschriften sind von Bürgern, die zutiefst unzufrieden mit der Großen Koalition sind.
 Nehren:  Ich kümmere mich seit 2008 um die sozialen Medien der SPD und stelle fest: Die Lunte ist kürzer geworden. Die letzten 14 Monate waren krass, die Wut ist eskaliert. Unter einem Posting von Ralf Stegner, dem stellvertretenden SPD-Parteivorsitzenden, stehen knapp 1500 Kommentare. Viele Leute wollen diskutieren oder geben Zuspruch, andere schreien aber in Großbuchstaben das Forum zu. Von Diskurs kann man da kaum noch sprechen.
 Telligmann:  Ich glaube, dass von einer bestimmten Seite eine Tür aufgestoßen wurde. Eine Art von Sprache, von Umgang im Diskurs ist salon­fähig gemacht worden.

Meinen Sie die AfD?
 Telligmann:  Unter anderem.
 Hilse:  Da würde ich gerne etwas erwidern. Erstens: Die AfD ist das Produkt einer Stimmung im Land, nicht die Ursache. Zweitens: Ich glaube, dass die Vertreter der etablierten Parteien selbst keine Kinder von Traurigkeit sind. Diese Verrohung der Sprache fängt auch in der Politik an – unter anderem damit, dass man ganzen Gruppen abspricht, eine Meinung vertreten zu dürfen.
 Tantzen:  „Parasiten“, „Kanzler-Diktatorin“, „geistig-moralisch kastrierte Schreiberlinge“. Das sind keine Zuschriften von Facebook-Pöblern, das sind Zitate von führenden Politikern Ihrer Partei, der AfD! Das ist ein Unterschied. Und das hat nichts mehr mit sachlicher Auseinander­setzung zu tun.
 Hilse:  Sigmar Gabriel pöbelt auch und beleidigt Bürger als „Pack“.

Gabriel hat nicht AfD-Wähler „Pack“ genannt, sondern randalierende, flaschenwerfende Rechtsradikale.
 Hilse:  Aber wir erleben es doch fast täglich, dass beides gleichgesetzt wird. Als die AfD 2013 anfing, dauerte es keine vier Wochen, bis man versucht hat, uns mit der Nazi-Keule aus dem Wettbewerb zu drängen. Aus unserer Sicht ist auch das Teil dieser Verrohung der Debatte.
Herr Hilse, Ihre Chefin ­Bea­trix von Storch schreibt bei Facebook, die Genderdebatte mache Männer zu Luschen, und sendet „Grüße aus dem Genderausschuss“ im EU-Parlament, dem „politischen Arm dieser Luschenparade“ – darf sie sich dann beschweren über hasserfüllte Reaktionen? Über Kommentare wie: „Bea, du rennst so rum, dass man zweimal hinschauen muss, um dein Geschlecht zu erkennen“?

 Hilse:  Überhaupt nicht. Das sind natürlich sehr pointierte Aussagen.

Pointiert? interessante Formulierung …
 Hilse:  Was Sie mir gerade vorgele­sen haben, ist für mich auf Facebook im Rahmen der normalen Kommunikation.
 Stachel:  Wie bitte? Weder der Post Ihrer Chefin noch die Reaktion da­rauf liegen für mich im normalen Bereich.
 Grothe:  Auf keinen Fall! Solch ein Ton bringt niemandem etwas. Da gilt das alte Prinzip: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es auch zurück.

„Luschen“, „Man kann Dein Geschlecht nicht erkennen“ – wie halten es die anderen Parteien mit solchen Äusserungen?
 Grothe:  Wir machen es wie in der Schule: Wir versuchen, die Guten zu fördern und die Störer, die in der Minderheit sind, in Schach zu halten. Wenn jemand pöbelt, wird er ermahnt; wenn es sich wiederholt, sperren wir ihn.

Würden Sie Frau von Storchs Kommentar löschen, hätte sie ihn auf der FDP-Seite gepostet?
 Grothe:  Ich würde ihn nicht sofort löschen, sondern erst darauf reagieren und fragen: Denken Sie, dass das eine angemessene Wortwahl ist? Folgt keine Einsicht, …

… was bei Frau von Storch passieren kann, …
… dann würde ich ihn löschen.

Gleicht Löschen nicht einer Niederlage in einer Debatte?
 Telligmann: Es geht ja nicht nur um den Einzelnen, der kommentiert, sondern auch um alle, die mitlesen und -diskutieren wollen. Alle sollen sehen, welche Grenzen gelten, und wissen, dass sie die nicht überschreiten dürfen, wenn sie sich an der Debatte beteiligen wollen.

Wie kann man noch auf Beleidigungen reagieren?
Grothe:  Wir hatten mal einen Vielschreiber, der sich über die Kritik der FDP an Pegida empört hat, Christian Lindner wegen seiner angeblich mickrigen Körpergröße – er ist 1,85 Meter groß – auf verschiedene Weise beschimpft hat und sich da­rüber lustig gemacht hat, dass die FDP angeblich 5000 Leute entlassen musste. Verrückt. Weil er immer weiter schrieb, haben wir ihm erst angedroht, seine Mail mit Namensnennung auf unserem Facebook-Profil zu veröffentlichen – und es schließlich auch getan. Danach war plötzlich Ruhe.

Wie sehr belasten Sie ­Beschimpfungen?
 Telligmann:  Die kann ich nicht so einfach überhören. Da sorgt man sich schnell um die eigene Sicherheit. Wir haben deshalb vor einem halben Jahr die Fotos und Infotexte zu den Mitarbeitern von der Homepage genommen, einfach weil die Morddrohungen konkreter wurden – nicht nur gegen die Chefin. Dass man auch als Mitarbeiter angegriffen wird, das war neu.

Wie sah das aus?
Telligmann:  In einer Zuschrift hieß es nicht nur, Frau Göring-Eckardt sei eine „Ami-Hure“, sondern dass wir als Team, „ihr ganzes Pack“, verlaust seien und in die Baracken von Auschwitz gehörten, bevor wir zu Hundefutter verarbeitet werden. Das sitzt dann erst einmal.

Wie verarbeiten Sie solch einen Hass?
 Telligmann:  Wir reden im Kollegenkreis viel darüber, und beim Volleyballspielen kriege ich den Kopf frei. Trotzdem: Das belastet. Umso schöner sind Solidarisierungswellen, die es dann immer mal wieder gibt. Wenn ich auf Facebook mal eine Beleidigung übersehe, reagieren oft andere Menschen. Sie halten dage­gen und verteidigen uns.
 Nehren:  Das erlebe ich auch. Viele Nutzer unterstützen uns. Trotzdem muss man dann beim Abendessen noch mal darüber sprechen.
Was war das zuletzt?
 Nehren:  Sigmar Gabriel hat vor einem halben Jahr Auschwitz besucht und anschließend seine persönliche Geschichte gepostet. Ihm ist das Gedenken wichtig. Doch dann lese ich reihenweise: „Lass uns doch damit in Ruhe, das muss doch jetzt mal gut sein …“ und übelste Hetzparolen, die ich nicht wiederholen möchte. Lesen Sie das mal über mehrere Stunden. Das lässt Sie nicht so schnell los.
auf der Seite von Beatrix von Storch gibt es keine Namen und keine Telefonnummern von Mitarbeitern. Haben Sie bewusst darauf verzichtet?
 Hilse:  Viele unserer Mitarbeiter wer­den bedroht. Zudem stehen ja auch Kontaktdaten von unseren Parteimitgliedern öffentlich im Netz, Linksextreme haben sie hochge­laden. Plötzlich werden deswegen einfache Parteimitglieder attackiert oder ihre Häuser beschmiert. In Stutt­gart wurden erst vergangene Woche etliche Autos beschädigt.
 Telligmann:  Alle erleben Angriffe, nicht nur die AfD. Neulich wurde Katrin Göring-Eckardt auf offener Straße angespuckt.
 Tantzen:  Solche Angriffe sind nicht neu. Ich habe das Ende der Achtzigerjahre selbst erlebt, als ich für die CDU-nahe Hochschulgruppe RCDS Plakate aufhängte. Da attackierten mich linke Studenten, zündeten die Plakate an, rissen mich von der Leiter und warfen mich in die Flammen. Zum Glück war am Ende nur meine Jacke angesengt.

Auch im Freundeskreis sind politische Lager heute oft verhärtet. Ein Beispiel: Nach den Anschlägen in Paris war ein Freund ziemlich aufgewühlt und sagte, wir bräuchten ein Kopftuchverbot in Deutschland! Offensichtlich eine ziemlich unlogische Folgerung. Wie schaffe ich es, ihm das klarzumachen?
 Nehren  (lacht): Sind wir jetzt hier, um Freundschaften zu retten?
 Telligmann  (lacht auch): So hatte ich die Einladung nicht verstanden, aber zum Thema: zuhören, lange zuhören! Und Fragen stellen. Helfen Sie ihm zu erkennen, dass die Sicherheitslage sich nicht bessern wird, wenn Frauen das Haus nicht mehr verlassen, weil ihnen das Kopftuchtragen verboten wurde.
Nehren:  Nie beim Gegenüber den Eindruck erwecken, dass sein Gefühl keine Berechtigung hat. Wichtig ist, empathisch nachzuvollziehen, woher das Gefühl kommt. Wenn ich sofort sage: „Das entbehrt jeder Logik, was du da redest“, endet die ­Diskussion, bevor sie beginnt.
Hilse:  Ihre Antworten zeigen doch, was das Problem ist.
Wieso?
 Hilse:  Sie wollen zwar zuhören, aber Ihre Meinung steht schon fest. Mein Vorschlag wäre, darüber nachzudenken, ob der Freund nicht ­vielleicht doch einen Punkt hat. Wenn wir ­immer von vornherein denken: Ich muss den anderen überzeugen, weil er etwas Absurdes sagt, dann engen wir uns ein. Viel zu oft wird mit ­ei­nem moralischen Überlegen­heitsgefühl die Debatte geführt, ­sodass am Ende nur ein Ergebnis der Diskussion akzeptiert wird. Wir brauchen mehr Mut, anzunehmen, dass man selbst falsch liegen kann. Das vermisse ich in vielen ­Debatten.
Aber man braucht doch auch Grundpfeiler in seinen politischen Überzeugungen.
 Hilse:  Natürlich. Aber bei Themen, die offensichtlich vielen auf dem Herzen brennen, schadet es nie, sich ab und zu selbst zu hinterfragen. Ich habe das Gefühl, dass man sich heute solchen Gesprächen und Themen zu voreingenommen nähert.
 Telligmann  (klopft mit der Faust dreimal auf den Tisch): Finde ich total super, das mal von einem AfD-Mitarbeiter zu hören.
Man muss ja den anderen nicht immer überzeugen. Aber wie schafft man es, zumindest ins Gespräch zu kommen?
 Grothe:  Ich glaube, es hilft, wenn die Menschen merken, dass auf der anderen Seite keine Maschine sitzt. Wenn sie merken: Man geht individuell auf sie ein, sie erhalten keinen Standardtext. Wir bekommen unheimlich viele Mails, in denen Leute davon ausgehen, dass eh keine Antwort kommt. Die sind dann überrascht, wenn wir reagieren.

Wirkt sich das auch auf die Sprache aus? Ist sie dann gemäßigter?

Grothe:  Absolut. Es kommt sogar vor, dass Menschen ihre Aussagen revidieren. Wenn ich sie frage: „Möch­ten Sie, dass wir im selben rauen Ton auf Ihre Mail reagieren?“ Dann antworten viele Leute: „Nein, so war das ja gar nicht gemeint.“
in Unserer Redaktion bekommen wir immer wieder Nachrichten, in denen die Leser uns schreiben:
„Mit unfreundlichen Grüßen“.
 Tantzen:  Das kenne ich gar nicht. „Sehr geehrter Herr Tauber“ ist der Normalfall, auch bei den harten Mails. Nur wenige schreiben nichts darüber oder wählen eine Anrede wie „Hallo, Sie Arschloch“.

Sind Beleidigungen nicht manchmal auch amüsant?
 Nehren:  Man lacht manchmal, wie absurd das ist, ja.
 Tantzen:  Es gibt Vielschreiber, die mich oft zum Lachen bringen. In der ersten Mail schreiben sie über das ­sogenannte Parteienkartell und die Lügenpresse, und in die folgende Mail kopieren sie dann Artikel aus seriösen Zeitungen und schreiben: „Habt ihr das gelesen? Jetzt müsst ihr doch mal was tun!“ Liegt der Artikel innerhalb des eigenen Weltbilds, sagt die angebliche Lügenpresse plötzlich wieder die Wahrheit und ist Teil der Beweisführung. Absurd.

Herr Hilse, ganz ehrlich: Wenn jemand Björn Höcke bei Twitter „Sonderschulhitler“ nennt, müssen Sie dann nicht auch kurz schmunzeln?  Hilse:  Das Problem ist, dass „Hitler“ immer eine Grenze überschreitet. Man kann über vieles lachen, aber das ist schon ausgeleiert, diese ständigen Versuche, die AfD mit der NS-Zeit zu verbinden.
antworten sie mit ironie?
 Tantzen:  Ironie ist höchst gefährlich. Was man selbst als ironisch wahrnimmt, ist für die andere Seite vielleicht die reine Wahrheit. Wenn jemand das Stilmittel nicht erkennt, kann das ganz schnell nach hinten losgehen.
 Grothe:  So sehr man selbst ironische Kommentare amüsant findet – in der Politik sind sie gefährlich.
 Telligmann:  Trotzdem muss man auch ans eigene Seelenheil denken. Ironie ist kompliziert, aber Humor kann ein Mittel sein, um dem Hass, den man täglich frisst, auch mal ein Ventil zu geben.
 Grothe:  Bei uns beschweren sich manchmal Leute über den Dreitagebart von Christian Lindner – und nehmen das zum Anlass, über den Werteverfall in der Gesellschaft zu klagen. Darauf kann man nur noch mit Humor reagieren. Wir antworten dann: „Bei uns zählt nur, was im Kopf ist.“

Herr Hilse, wie sieht der ­Humor der AfD aus, über den wir alle lachen können?
Hilse: Ich erinnere mich gerade an eine Situation, als ganz Deutschland durchdrehte, weil Frau von Storch in Brüssel fotografiert wurde, wie sie einen Döner isst. Da gab es absurde Presseanfragen, die das bestätigt haben wollten. Da kann man sich eine humorvolle Antwort manchmal nicht verkneifen. Gegenüber Journalisten geht das auch. Bei Facebook ist es sehr viel schwieriger.

Gab es Wähler, die enttäuscht waren, weil sie einen Döner gegessen hat?
Hilse:  Solche Zuschriften hatten wir auch, ja.

An die AfD wenden sich viele unzufriedene, heisst es. Welche Mails sind sogar Ihrer Partei zu hart?
Hilse:  Wir bekommen immer wieder Zuschriften von „Reichsbürgern“ – Leuten, die glauben, dass die Bundesrepublik kein Staat ist.

Schon mal einen Reichsbürger überzeugt, die Bundes­republik anzuerkennen?
 Hilse:  Nicht direkt, vielleicht aber zum Nachdenken gebracht.

Wenn wir schon bei Verschwö­rungstheorien sind: ein Teil der AfD leugnet, dass es den Klimawandel gibt.
 Hilse: Was heißt leugnen? Wir haben intern auch viel und heftig da­rüber gestritten. Und die Frage darf ja schon erlaubt sein: Ist die Rolle des CO₂ wirklich so schwerwiegend für unser Klima, wie uns gesagt wird? Da wird doch eine Situation unnötig als gefährlich aufgeblasen.
 Telligmann:  Die Mehrheit der seriösen Wissenschaftler ist da anderer Ansicht. Der menschengemachte Klimawandel wird von ihnen in zahlreichen Studien eindeutig belegt.
 Tantzen:  Die AfD strickt doch mit an solchen absurden Geschichten. Etwa, als Frau von Storch erklärte, dass unsere Bundeskanzlerin nach Chile auswandern werde. Fast so verrückt wie die Verschwörungstheorie, die Herr Tauber vor Kurzem in einer Zuschrift zu lesen bekam: Er sei ja Mitglied im CIA-Marionettenverein CDU, und es sei ja bekannt, dass er „Star Wars“-Fan ist. Damit sei nun endlich bewiesen, dass er auch Scientology-Mitglied ist. Diese Herleitung fand ich, nun ja, spannend.

Wer ist der durchschnittliche Bürger, der sich bei Ihnen meldet?
 Stachel:  Jeder Bildungsgrad, jedes Alter. Vom Auszubildenden bis zum Rentner.
 Tantzen:  Vom Bildungsgrad würde ich sagen: eher gebildet.

Auch die Hater?
Tantzen:  Ja. Als Beispiel möchte ich einen Brief von einem Theologieprofessor anführen. Er hat sich in diesem Schreiben tierisch über die Flüchtlinge aufgeregt. Seine Zuschrift war hart an der Grenze. Der hat dann auch eine harte Antwort bekommen.
Wie klingt eine harte ­Antwort bei Ihnen?
 Tantzen:  Wir sagen dann deutlich: Wenn Ihre Vorstellung von unserer Politik ist, wir sollen Flüchtlingen nicht helfen, sind Sie bei uns falsch. Die CDU steht zum grundrechtlich verbrieften Asylrecht. Außerdem ­haben wir den Theologieprofessor auf einige Passagen der Bibel hin­gewiesen.

Sie legen dem Bürger also nahe, eine andere Partei zu wählen – mutig. Rufen die dann am nächsten Tag bei ihnen an, Herr Hilse?Hilse:  Ja, das kann passieren.

Die „taz“-Journalistin Bettina Gaus hat vor Kurzem gesagt, Es gebe durch Abgeordnete in den Wahlkreisen genug politische Vertreter, an die sich die Bürger mit ihren Anliegen wenden können. Die Bundeskanzlerin und Ihre Minister haben anderes zu tun, als mit den Bürgern in Dialog zu treten.Stachel:  Im Gegenteil: Es wäre wünschenswert, dass sich möglichst viele Menschen mit ihren Beschwerden und Wünschen an die Regierung und damit auch an die Kanzlerin wenden können, denn sie sind es schließlich, die mit den Auswirkungen der Politik leben müssen. Frau Wagenknecht hat den Anspruch, jede Zuschrift zu lesen, weil das als Rückmeldung wichtig für sie ist.

Entschuldigung, das klingt nach politischer PR. Zusätzlich zu all ihren eigentlichen Aufgaben liest Sahra Wagenknecht am Tag 80 Mails von Bürgern? Hilse:  Für mich klingt das auch nach PR.
 Stachel:  Es ist aber wahr – Sahra Wagenknecht ist sehr viel online. Jeder, der mit ihr gearbeitet hat, kann das bestätigen. Sie liest jede Mail, jeden Brief.
 Grothe:  Christian Lindner auch.
 Tantzen:  Herr Tauber ebenso – er will das Feedback von den Bürgern lesen.

Sie glauben also, noch mehr Kommunikation zwischen hochrangigen Politikern und Bürgern hilft der politischen Debatte?
Grothe:  Ich glaube schon, dass Politik niedrigschwellig sein sollte. Heute kann man vom Sofa aus einen Spitzenpolitiker anmailen oder bei Facebook kommentieren und bekommt oft binnen Stunden eine Reaktion. Das ist unter dem Strich klar ein Gewinn für unsere Demokratie.
Aus Ihrer Erfahrung mit den Bürgern: Ist die Volks­abstimmung, wie sie in der Schweiz eingesetzt wird, zu empfehlen?
 Stachel:  Definitiv. Mehr Bürger­beteiligung bei politischen Entscheidungen wäre wichtig. Die Bürger sind mündig genug zur direkten Demokratie.
 Hilse:  Ich kann Ihnen nur beipflichten. Die Geschichte anderer Länder, die mit Volksabstimmungen operieren, zeigt doch, dass die Leute der Verantwortung gerecht werden. Ich denke, viele politische Fehlentscheidungen der letzten Jahre hätte es mithilfe von Volksabstimmungen nicht gegeben. Das Argument, die Repräsentanten seien klüger als die Bürger, weil sie mehr Zeit haben, sich mit dem Thema auseinander­zusetzen, lasse ich nicht gelten. Am Ende, wenn man auf Bundesebene das ganze Volk befragt, sind die Menschen verantwortungsbewusster, als wir sie oft machen.
 Tantzen:  Ich bin, wie die CDU, gegen Volksabstimmungen auf Bundesebene. Denn: Je nach Fragestellung könnte ich mir sogar vorstellen, dass es eine Mehrheit gibt, die unter bestimmten Voraussetzungen die Todesstrafe wiederhaben will, zum Beispiel für Kindsmörder.
 Grothe:  Ich teile die Skepsis. Beim Brexit hat man ja gesehen, wie schnell das schiefgehen kann.#

Das Gespräch führten MARCO MAURER, CHRISTOPHER PILTZ und LARS WEISBROD