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Herr Bischoff hört nicht auf zu lieben

Fast jeder von uns hat schon einmal unter einer ­Trennung gelitten. Es heißt, die Zeit heile alle Wunden. Aber was ist, wenn die Zeit selbst zur Wunde wird?

Ralph Bischoff, 61, wohnt in einem Museum der Gefühle. An der Fensterfront seines Wohnzimmers steht ein grauer Commodore 128D, ein Personal Computer aus dem Jahr 1985. Natürlich funktioniere dieses Ungetüm noch, sagt er: „Das war ja das Topmodell damals.“ Zu jener Zeit, als Datenträger noch Disketten und Kassetten hießen – sie stapeln sich noch überall in seiner Wohnung –, traf er auf Bettina*.
Wenn Bischoff die Geschichte seiner Liebe erzählt, versteht man, warum er auf der mintgrünen Decke sitzt, die sie ihm geschenkt hat, warum ihre Hanuta-Aufkleber auf seinen Küchenschränken kleben, in der Küche ein Foto von der blonden, zierlichen Frau hängt und Ralph Bischoff nur den Schrank in seinem Bad öffnen muss, um einen kleinen Klopapierabriss in den Händen zu halten, auf den Bettina gekritzelt hatte: „Hallo Frosch!“ Den Abriss hat seine Freundin nicht vor wenigen Wochen zurückgelassen. Sondern irgendwann in den 80ern.
Ralph Bischoff hat Bettina seit 1994 nicht mehr gesehen.
Aber er liebt sie noch immer.
Liebe ist nicht Wasser, nicht Luft, aber doch ein Grundbedürfnis unseres Seins. Es heißt, von einem vertrauten Menschen verlassen zu werden, setze einem so zu wie sonst nur dessen Tod. Manche glauben sogar, Verlassenwerden sei schlimmer, weil wir alle unumgänglich sterben und Menschen allein lassen werden. Aber die Liebe dadurch nicht infrage gestellt wird. Jemanden zu verlassen geschieht dagegen aus freiem Willen. Wird einem Menschen das entzogen, was wir Liebe nennen – Vertrauen und Nähe –, tut er oft Dinge, an die er sonst nicht einmal denken würde. Wenn es gut läuft, schreiben Menschen aus Liebeskummer Songs oder Bücher. Sie stürzen sich aber auch von Dächern, schießen in Menschenmengen, kaufen sich teure Schuhe, Autos oder Nutten, geben sich Männern oder Frauen hin, brechen Herzen, werden zu Trinkern, greifen zu härteren Drogen, essen nichts mehr oder viel zu viel; beginnen, das andere Geschlecht oder gleich alle auf dieser Welt zu hassen, verlieren ihren Antrieb, ihre Leidenschaft, nicht selten sogar ihren Beruf. Oftmals leben Menschen, die sich hintergangen fühlen, exzessiver. Das Innere kehrt sich nach außen, wird plötzlich sichtbar.
Ralph Bischoff hat ein anderes Extrem gewählt, mit dem Verlassenwerden umzugehen: Er hat sich entschieden, Bettina einfach weiter zu lieben. Dafür braucht er nicht viel. Nur sich, seine Erinnerungen und seine Wohnung, die noch immer von den fünf Beziehungen mit ihr innerhalb von zehn Jahren erzählt.

TRAUERPHASE
Annahmen darüber, wie lange ein Mensch um seine ehemalige Liebe trauert, gibt es viele. Einige sagen, man vermisse so lange einen Partner, wie die Beziehung gedauert habe. Andere meinen, das bemesse sich daran, wie lange man noch an die gemeinsame Liebe geglaubt habe. Wissenschaftler haben sogar Formeln entwickelt. Je nachdem, welche Studie man zurate zieht, liegt die durchschnittliche Trauerzeit nach einer langjährigen Partnerschaft zwischen vierzehn und neunzehn Monaten. In dieser Zeit hoffen viele, dass der geliebte Mensch doch wieder an der Tür klingelt. Aber weil dort meist nur der Paketbote steht, schleicht sich erst wieder der Alltag und dann eine neue Liebe ein. So funktionieren Menschen. Das will Gott oder zumindest Darwin so.
„Es gibt keinen anderen Menschen als Bettina, mit dem ich mir ein Leben vorstellen könnte“, sagt dagegen Bischoff und trinkt aus einem Glas, aus dem Bettina schon in den 80ern getrunken hat. Manchen geht es ähnlich wie ihm, sie fühlen sich länger an einen Menschen gebunden. Sechs Jahre, drei Beziehungen später oder, obwohl unverheiratet: ein Leben lang. Sie sprechen von ihren ehemaligen Partnern so, als könnten sie jeden Moment wieder aus der Küche kommen und ihnen ein Stück Apfelkuchen bringen. Whitney Houston sang „I will always love you“, Rilke schrieb: „Hörst du, Geliebte, ich schließe die Lider / und auch das ist Geräusch bis zu dir. / Hörst du, Geliebte, ich hebe sie wieder … / … aber warum bist du nicht hier.“ Doch nicht nur in Songs und Gedichten, sondern auch im Netz finden sich Spuren solcher Menschen: „Ich habe meine Exfreundin fünfzehn Jahre nicht gesehen, vermisse sie aber noch immer.“ – „Seit zehn Jahren Liebeskummer – ich fühle mich wie in einer Schlaufe gefangen“, heißt es dort. Und oft auch: „Ich werde nie wieder jemanden so lieben.“
Anthropologen fanden heraus, dass es überall auf der Welt Liebeskummer gibt. Die US-Forscherin Helen Fisher meint, die Natur habe es sowohl beim Anfang der Liebe als auch beim Ende übertrieben – zu extrem seien jeweils die Gefühle. Und die Dichterin Emily Dickinson schrieb einmal: „Den Himmel kennen wir vom Abschied. An Hölle braucht’s nicht mehr.“ Doch warum dauert dieser Zustand bei einigen nur wenige Wochen, während er andere jahrelang aus der Bahn wirft? Heilt die Zeit – wie Therapeuten und Ratgeber uns versprechen – wirklich alle Wunden? Was aber, wenn es einem Menschen nicht gelingt, sich von seiner Liebe zu verabschieden? Was, wenn die Zeit selbst zur Wunde wird?
Ralph Bischoff wohnt in einer Straße Bremens, in der einst Bundespräsident Karl Carstens gelebt hat und die direkt in den Bürgerpark, eine große Grünfläche inmitten Bremens, mündet. Ein hübsches Haus reiht sich ans nächste, Väter laden ihre Kinder in Kombis oder holen sich Frühstücksbrötchen vom Bäcker. Zwei, drei Backsteinhäuser weiter: Bischoffs Apartment, Systembau aus den 90er Jahren, zweiter Stock. Käme Bettina heute hier zur Tür herein, würde Bischoff vielleicht zu ihr sagen: „Willkommen, Miss B.“ So nannte er sie damals immer, weil sie ihre Briefe an ihn mit „Hallo Mister B.“ begann. Ralph Bischoff ginge dann womöglich kurz in seine Küche, um ein Glas Wasser zu holen. Während sie warten würde, würden ihr nicht nur die mehr als dreißig Froschfiguren in Bischoffs Wohnzimmer auffallen, die er deswegen sammelt, weil sie ihm mal eine geschenkt hat, sondern auch: dass sie in eben jenem Wohnzimmer sitzt, das sie vor mehr als zwei Jahrzehnten eingerichtet hat. Bischoff würde sich zu ihr setzen und sie vielleicht fragen: „Weißt du eigentlich, dass du die letzte Frau warst, mit der ich geschlafen habe?“ Würde Bettina dann wirklich bei ihm bleiben, wäre das die sechste Beziehung zwischen den beiden.

ERSTE PHASE
Alles beginnt im Juli 1983. Bischoff reagiert auf eine Anzeige in einer Bremer Lokalzeitung: „Nur geträumt? W, 25, möchte Dich, M, aus Bremen kennenlernen. Ch. 07246“. Bischoff schreibt ihr, sie treffen sich im Café Jacobs, spazieren drei Stunden an der Weser entlang, ihre Augen sind blau, doch das Gespräch verläuft so uneben wie die Wege, auf denen sie gehen, ihre Telefonnummer will sie ihm nicht geben. „Dann ruf du mich an“, sagt er. „Wenn du nicht zu Hause bist“, antwortet sie schnippisch.
Ralph Bischoff, ein freundlicher, aber renitenter Mann, lässt nicht locker. Bettina hat einen etwas ungewöhnlichen Nachnamen, er findet sie im Telefonbuch, dem Google jener Tage. Dort steht, sie wohne in Blumenthal, einem Stadtteil im Nordwesten von Bremen, dem Mann aus der Gemeinde Lilienthal, nordöstlich von Bremen, gefällt das. Er wählt 6099565, ihre Nummer, und sagt: „Bettina?“
„Das B. steht für Bernhard – der ist nicht da“, antwortet sie.
Bettina will ihn erneut abwimmeln, lässt sich aber zu einem zweiten Treffen überreden.
Vier Tage nach der ersten Begegnung spazieren sie durch den Bürgerpark. Sie setzen sich auf eine Bank, doch das Gespräch kommt wieder nicht in Gang, nach einer halben Stunde verliert Bischoff erstmals die Geduld, will sich von ihr verabschieden. Er hat den Eindruck, sie seien zu verschieden: er, der ordentliche, konservative Banker, Sachgebiet Kreditsicherheit, mit seinem programmierbaren Taschenrechner, seinen Bilanzen, Exportdokumenten und Luftfrachtpapieren – und sie, die Krankenschwester, die ihre eigene Wohnung hat, zuvor bei einem Guru in einer Hippie-WG gewohnt haben will und eine Sprache spricht, die er nicht versteht – die Wörter wie „Clique“, „Mantra“ und „flippig“ verwendet. Genauso wenig weiß er vom Waldsterben und vom „Grünflash“, den sie hier im Bürgerpark immer bekomme. Es wird ihm zu viel, sie ist ihm fremd, er steht auf, will gehen.
Da hält sie ihn plötzlich fest und küsst ihn.
Danach sei alles anders gewesen. Mit einem Mal habe er das Gefühl gehabt, sie seit Jahren zu kennen. Eine Wende nennt er diesen Kuss. Erinnert er sich heute daran, wird sein blasser Teint einen Ton kräftiger.
Nach dem Kuss auf der Bank, zwischen Juli und Oktober 1983, besucht der Mann aus Lilienthal immer häufiger diese Frau aus Blumenthal in ihrer Wohnung, bleibt an Wochenenden über Nacht. Bischoff, damals 29 Jahre alt und vier Jahre älter als Bettina, wohnt noch bei seinen Eltern. Sein Vater und seine Mutter, Ingenieur und Sekretärin, trauen ihm nicht zu, alleine zu wohnen – und er selbst sich auch nicht. Dass Bettina eine eigene Wohnung hat, macht sie noch schillernder für ihn. Sie dagegen irritiert seine Unselbstständigkeit. Überhaupt wundert sie sich oft über ihn.
„Das ist ungewöhnlich, dass ein Typ sich so um mich kümmert“, sagt Bettina ihm am Telefon, als er sie im Sommer 1983 täglich aus seinem Urlaub in Nizza anruft.
„Mir wird das zu viel“, sagt sie drei Monate später.
Wenn Menschen verlassen werden, kann das zu einem Trennungstrauma führen. Psychotherapeuten beschreiben Liebesentzug mal als Amputation, mal als echte Entzugserscheinung. Ein Teil der Seele oder, je nach Typ, der Stoff, der lange Glück bedeutete, fehlt plötzlich. Untersuchungen zeigen, dass Menschen Traumata unterschiedlich verarbeiten. Experten unterscheiden vier Typen: Die „Erholten“ fangen sich nach ein, zwei Jahren wieder, während die „Verzögerten“ länger trauern. Die „Resilienten“ kommen durch eine Krise ohne psychische Probleme. Resilienzforscher gehen davon aus, dass positive frühkindliche Bindungserfahrungen, ein sich sorgendes Elternhaus oder ein stabiler Freundeskreis dabei helfen, Krisen durchzustehen. Bei den „Chronischen“ entwickeln sich dagegen dauerhafte Depressionen oder andere psychische Störungen.
Ralph Bischoff verwaltet seine Gefühle wie ein Kundenbetreuer einer Bank seine Unterlagen, drückt einem unaufgefordert ein kariertes Papier in die Hand. Auf ihm ist, fein säuberlich und in verschiedenen Farben, ein mit Lineal gezeichneter Zeitstrahl eingetragen, der darlegt, wie oft er innerhalb von zehn Jahren mit Bettina zusammen war („Bettina I“ bis „Bettina V“), wie oft sie miteinander telefoniert oder sich Briefe geschrieben haben. Bischoff will Dinge katalogisieren – nüchtern, sachlich, rational. Freunde, mit denen er über die Phasen Bettina I bis Bettina V reden könnte, hat Bischoff nie gehabt. Er bezeichnet sich als autonom und legt Wert darauf, stets alleine gut mit seinem Leben und seinen Gefühlen zurande gekommen zu sein. Wurden sie ihm zu viel, nahm er lieber auf der Bank, auf der er einst geküsst wurde, im Bremer Bürgerpark, Platz. Erst letzten Monat habe er dort wieder einmal vorbeigeschaut, sagt er.

ZWEITE PHASE
Vier Monate nach Ende der ersten Beziehung, am 11. Februar 1984, seinem 30. Geburtstag, holt Bischoff eine Glückwunschkarte aus dem Briefkasten. In geschwungener Schrift steht dort, ganz klein und unauffällig: „Aus Blümchenthal.“
Da sei er wieder „Feuer und Flamme für Bettina“ gewesen. Bereits am nächsten Tag ruft er sie nach der Arbeit von einem Telefonhäuschen in Bremen aus an. Er bedankt sich für die Karte, sagt, er könne jetzt zu ihr oder nach Hause fahren. Das sei ungefähr gleich weit.
„Fahr lieber nach Hause“, antwortet Bettina.
Von da an telefonieren sie trotzdem wieder regelmäßig. Doch Bischoffs Bitten um ein Treffen lehnt sie stets ab. Drei Monate später fährt er einfach zu ihrer Wohnung – unangemeldet. Er klingelt, niemand öffnet, er fährt wieder zurück, ruft sie aus dem Telefonhäuschen in Bremen an – und sie nimmt ab.
„Wenn du einfach so unangemeldet vorbeikommst, musst du dich nicht wundern, wenn die Tür zu bleibt“, sagt sie.
„Wenn ich angerufen hätte, hättest du gesagt, ich will nicht, dass du kommst“, antwortet er.
„Du weißt ja gar nicht, ob ich das gesagt hätte.“
„Dann frage ich dich jetzt, was wäre, wenn ich morgen käme.“
„Komm doch.“
Zwei Worte, die nicht in Ralph Bischoffs akkurate Welt passen – Trennung heißt für ihn Trennung. Er hat sich zwar gewünscht, dass Bettina zurückkommt, aber es nie für möglich gehalten. So war das bei den beiden Freundinnen, die er vor Bettina hatte, und so ist er das auch von der Arbeit in der Bank gewohnt. Nach den zwei Worten verbringen sie einen Tag miteinander, eine Nacht, weitere Tage, weitere Nächte, insgesamt vier, fünf Monate sind sie zusammen, machen sogar eine Woche Urlaub in Nizza.
Bereits auf dem Rückflug sprechen sie kein Wort mehr miteinander.
Bettina II ist vorbei.
Aus der ersten Phase nimmt Bischoff die Erkenntnis mit, dass Bettinas Sprunghaftigkeit seiner ordentlichen Welt Aufregung verschafft. Aus der zweiten erwächst der Wunsch nach einer eigenen Wohnung. Knapp zwei Monate nach Bettina II zieht er bei den Eltern aus. Mit Bettina telefoniert er hin und wieder. Insgeheim weiß er auch, dass ihr die Nachricht von seinem Auszug imponieren wird, und er hat gelernt: Imponiert ihr etwas, klingelt auch häufiger wieder das Telefon.

DRITTE UND VIERTE PHASE
Aus dem Satz „Ich will nur deine Wohnung sehen“ entwickelt sich so zwei Jahre später Bettina III: Luftschlangen schmücken das Wohnzimmer, Ballons fliegen durch die Luft, Ralph Bischoff trinkt Champagner direkt aus der Flasche, wirkt befreit. Bettina, die in ihrem schwarzen Jumpsuit mit dem tiefen Rückendekolleté in keiner Bar lange allein bleiben würde, legt Platten auf – für sich und einen Mann, der dem heutigen Musiker Erlend Øye verblüffend ähnlich sieht: Bischoff. Wohnzimmerdisco an Silvester 1986/1987, das von Giorgio Moroder geschriebene „Take My Breath Away“ an der Spitze der Charts. Eine der schönsten Erinnerungen Ralph Bischoffs. Auf den Bildern in seinen Fotoalben – ein glückliches Paar.
Blättert Bischoff durch diese Alben, dann sieht er häufig auch eine Bettina mit angestrengtem Blick und einer tiefen Kerbe zwischen den Augenbrauen. Ein sicheres Zeichen dafür, sagt Bischoff, dass er zuvor entweder ein falsches Wort gesagt oder den falschen Wein gewählt habe. Bettinas Laune habe schnell umschlagen können, von starker Zuneigung zu maximaler Ablehnung: Bettina III endet im April 1987, und zwei Jahre später, im September 1989, ist auch Bettina IV nur mehr eine Geschichte, die auf einer Grillparty bei Bischoffs Nachbarn begonnen und nach einem Urlaub in Griechenland geendet hat.
Bischoff sagt, jede der Episoden sei daran gescheitert, dass die beiden nicht über sich hätten reden können; zu unterschiedlich waren sie. „Du hast zwar eine Eigentumswohnung, aber keine kurzen Hosen, Ralph“, sagt sie einmal zu ihm.
Bettina bringt sein Leben in Wallung, macht es aufregender und bunter, während er ihres wohl erdet und beruhigt. Doch immer, wenn aus Verlässlichkeit ein Gefühl von Enge und Langeweile wird, läuft sie ihm davon. So erklärt sich das zumindest Ralph Bischoff.

FÜNFTE PHASE
Vier Jahre nach Bettina IV folgt die fünfte und bisher letzte Beziehung der beiden im September 1993. Und plötzlich, zehn Jahre nachdem sie sich kennengelernt haben, hat Bettina nicht nur kurze rote Haare, sie verstehen sich auch besser.
„Wir können ja mal wetten, wer von uns als Erstes drei Kilo zunimmt“, sagt sie zu ihm in jener Zeit, die er als engste und schönste wahrnimmt. Jede Minute verbringen sie zusammen. Sie lernt seine Schwester kennen, er nimmt drei Kilo zu.
Er denkt, sie bleiben jetzt zusammen.
Bis sie im April 1994 anruft und sagt, es mache keinen Sinn mehr. Jeder weitere Anruf sei eine Zeit- und Geldverschwendung. Doch insgeheim rechnet der Banker weiter mit ihr.
Drei Jahre später sieht Bischoff im Fernsehen einen Bericht über die Bremer Entbindungsstation, in der Bettina arbeitet, und ruft sie an. „Ich habe jetzt selbst Kinder“, ist der Satz, der ihm aus diesem Telefonat im Gedächtnis bleibt, und seither: Funkstille.

STILLSTAND
Andere Frauen haben Bischoff nie interessiert. Wer viel Zeit mit ihm verbringt – NEON begleitet ihn seit drei Jahren –, wird unweigerlich an Freunde denken, die sich dazu entschlossen haben, lieber allein zu sein, als sich noch einmal der Gefahr der Liebe auszusetzen. An Freunde, die nicht lebens-, aber liebesmüde geworden sind. Vertraut man ihm diese Gedanken an, lächelt Ralph Bischoff und sagt: „Man soll nie nie sagen.“
Die Idee der großen Liebe wird heute durch Trennungs- und Scheidungsraten infrage gestellt und uns trotzdem immer wieder gelehrt. Durch Menschen, denen es gelingt, sich ein Leben lang zu achten, zu vertrauen und zu lieben. Manchmal sind das die eigenen Eltern, die Krisen und Kontaktpausen durchgestanden haben und dennoch oder gerade deswegen zu einer Einheit geworden sind. Oftmals sind das die Großeltern, die einander bis zum Tod gegenseitig pflegen. Immer sind es Filme, Bücher und Songs. Singt Adele zu einer Zeit, in der ein Mensch dafür empfänglich ist, „Hello, it’s me“ oder Freundeskreis „Halt dich an deiner Liebe fest“, lässt einen das nicht unbeeindruckt.
Ist dieses Festhalten an der Idee der großen Liebe im Alleinsein dumm, naiv, krank, egoistisch – oder vielleicht am Ende sogar: aufrichtig? Denn was macht man, wenn man die Momente mit diesem einen Menschen als die glücklichste Zeit seines Lebens ansieht? Lässt man dann die eine große Liebe die eine große Liebe bleiben – egal in welchem Bett sie heute und auch zukünftig schläft? Ist ein Liebesversprechen nicht ein Versprechen für die Ewigkeit – auch ohne Ehegelöbnis? Und falls dem so ist, ist es dann für einen Verlassenen nicht sogar ehrlicher, ein Leben zu führen wie Ralph Bischoff, das sogar einen streng katholischen Witwer ehren würde?
„Hör gut zu, du bist mein Glück / Nicht immer, aber immer wieder / bin ich total durch dich verzückt / Du bist mein echtes, pures Glück“, heißt es in „Hör gut zu“, dem Song zur letzten Beziehung von Bettina und Ralph Bischoff. Hört er das Lied – „Bravo Hits 5“, Disc 2, Track 17, Interpret: Pur – aus dem Jahr 1993, leuchten die Bilder von ihr und ihm wieder auf: Flashbacks. Auch wenn er auf der Bank im Bremer Bürgerpark sitzt, sieht er zwar eigentlich nur Bäume und eine leere Wiese vor sich, aber auch stets die Momente der Vergangenheit. „Ich habe hier immer das Gefühl, es ist nicht endgültig“, sagt er.
Zwischen Bettina II und Bettina V hat sich wohl bei Bischoff ein Gedanke eingeschlichen: Er ahnt, sie kommt wieder. Daran klammert er sich auch diesmal, im Jahr 23 nach Bettina. Damit das doch noch geschieht, hat er einem Bremer Obdachlosenmagazin seine Geschichte erzählt und rund fünfzig Exemplare durch die Republik geschickt. Er will einfach, wie jetzt auch wieder, dass Bettina seine Botschaft liest, ihn doch noch findet.

SECHSTE PHASE?
Bettina verloren zu haben, quält ihn nicht mehr so wie früher, er hat sich daran gewöhnt. „Und weil ich mich daran gewöhnt habe, fehlt sie mir nicht mehr so sehr“, sagt er. Da er glaubt, dass er für Bettina VI ein anderer Mann sein sollte, hat er sein Leben geändert: Er hat seinen Job bei der Bank gekündigt, arbeitet als Statist beim Fernsehen, etwa beim Bremer „Tatort“, und Kindern und Jugendlichen gibt er mehrmals die Woche Nachhilfe in Deutsch oder Mathematik. Er führe heute ein glücklicheres Leben, sagt er, und das habe er zu einem großen Teil Bettina zu verdanken. „Sie hat Dinge in mir aufgebrochen.“
Der Mann im Wohnzimmer mit einem Pullover so rot, wie wir uns die Liebe immer vorstellen, führt so heutzutage ein Leben, das seinem ausgeflippten Mädchen aus Blumenthal gefallen könnte, er ist nun auch etwas Hippie. Dennoch bewahrt er sein altes Leben zugleich auf. Therapeuten sagen über Menschen wie Bischoff, dass Liebeskummer erst zu einer Lebenskrise führe und dann zu einer Lebensausrede dafür werde, nichts mehr verändern zu müssen. Der Zustand stabilisiert sie, tut ihnen sogar gut. Sie trauern nicht der einen Person nach, sondern einer Situation, die eine Person einmal in ihrem Leben ausfüllte. Bettina ist demnach für Bischoff zur perfekten Frau geworden. Er gibt sich einer Illusion hin, und da sich diese aus ihm selbst speist, wird er nie von ihr enttäuscht. Bischoff hat so nicht nur immer noch den 85er PC, sondern auch die gleiche Telefonnummer wie einst – und das wisse Bettina bestimmt auch, sagt er. Das wisse sie bestimmt auch, sagt er noch einmal.

(*Name von der Redaktion geändert)