Süddeutsche Zeitung
Sie will nur spielen
Das Bordrestaurant des EC 173, ein österreichischer Zug auf dem Weg vom Berliner Hauptbahnhof nach Graz über Dresden, passt irgendwie nicht zur Schauspielerin Aylin Tezel. Gestärkte Tischdecken, stramme Bügelfalten, ein etwas steifer Österreicher als Kellner. Aylin Tezel lacht zur Begrüßung, schaut sich neugierig um, beißt auf die Lippen. Sie freut sich auf ihre morgendliche Reise nach Hof. Die Schauspielerin stellt dort ihren Ende November erscheinenden Film Am Himmel der Tag (Regie: Pola Beck) vor. Den Anschlusszug in Dresden wird sie später verpassen. Aylin Tezel schimpft aber weder auf die Bahn, noch machen ihr die 35 Minuten Verspätung etwas aus.
Es ist derzeit auch nicht ungewöhnlich, sie im Zug anzutreffen, sie ist viel beschäftigt, das deutsche Kino, der deutsche Film, sogar des Deutschen liebstes Fernsehkind, der Tatort, mag sie. Der Stern nannte sie vor ihrem ersten Auftritt in der Reihe „Fräulein Kommissar“, die Bild wusste über „Deutschlands jüngste Tatort-Kommissarin“ Bescheid, die Gala schrieb – in Anklang an eine Rolle Tezels in einem ARD-Weihnachtsfilm aus dem Vorjahr – „Aschenputtel ermittelt jetzt in Dortmund“. Und wer derart umgarnt wird, hat häufig nicht nur volle Auftragsbücher wie die 28 Jahre alte Tezel, sondern manchmal auch ein ziemlich großes Ego – nicht so bei Aylin Tezel.
Sie bestellt Kamillentee, während sie der österreichische Kellner verzückt anschaut. Sie trägt legere Kleidung – eine schwarze Jeans, einen Kapuzenpullover, braune Stiefel – und legt Wert darauf, dass ihr ein Gespräch lieber wäre als ein Interview, weswegen sie erst mal die Fragen stellt und der Zug an Orten wie Plessa und Hohenleipisch vorbeizuckelt. Aylin Tezel spricht so, wie ihr Blick ist, ein wenig keck und neugierig; sie interessiert sich für Menschen und ihre Welt. Dennoch wird sie ein wenig später den für eine Schauspielerin ungewöhnlich zurückhaltenden Wunsch äußern: „Ich sitze gerne alleine in Cafés. Die Vorstellung, nicht mehr unauffällig zu sein, finde ich unheimlich.“
Man glaubt der in Bielefeld aufgewachsenen und an der Ernst-Busch-Schauspielschule ausgebildeten Aylin Tezel diesen Wunsch. Als sie ihn vorträgt, lacht sie. Weil sie weiß: Sie gibt sich gerade große Mühe, dass er nicht in Erfüllung geht. Dabei treten ihre zwei Schneidezähne hervor, was ihr eine Ähnlichkeit mit zwei Diven der deutschen Unterhaltung beschert, mit Nora Tschirner und Lena Meyer-Landrut. Sie ist aber nicht, so wie die anderen beiden Frauen, an besonders großer Aufmerksamkeit interessiert; noch jedenfalls scheint Aylin Tezel der Mittelpunkt egal zu sein.
Trotz einer der Hauptrollen im Integrationskinofilm Almanya – einem Publikumserfolg. Trotz der Rolle der toughen Dortmunder Tatort-Kriminaloberkommissarin Nora Dalay. Trotz zweier aktueller Kinofilme (Am Himmel der Tag und die Komödie 3 Zimmer/Küche/Bad). Sowohl Am Himmel der Tag als auch der Tatort sind ungewöhnlich gut für deutsche Produktionen. Im Tatort ermittelt Aylin Tezel in einem vierköpfigen Team an der Seite des unorthodox auftretenden Hauptkommissars Peter Faber (grandios: Jörg Hartmann). Die Erzählweise des Krimis erinnert an US-Serien wie Mad Men oder Breaking Bad, weil sich die Figuren nebenbei entwickeln, Bögen in die Vergangenheit geschlagen werden, der Zuschauer geduldig sein muss und am Ende jeder Folge eine Frage ungeklärt bleibt. Tezel sagt, es gab auf ihren ersten Einsatz „gegenläufige Stimmen. Die einen finden unseren Tatort spannend, weil wir eine etwas strange Figur etabliert haben. Die anderen finden ihn zu schnell, zu aufregend, zu anders“.
Das wird auch in der zweiten Folge „Mein Revier“ nicht anders sein. Sie spielt in der rauen Dortmunder Nordstadt und es geht unter anderem um Suff, Sex einer Kommissarin mit einem Callboy und Suizid. „Dass unser Team eher unsympathisch auftritt, ist ungewöhnlich. Wir sind kein Team, in das man sich verliebt“, sagt Aylin Tezel. Der Dortmunder Tatort erinnert an das mittlerweile abgesetzte Hamburger Format um Mehmet Kurtulus, das Tezel „sehr spannend“ fand. Dennoch teilt sie nicht die Sorge vieler Zuschauer vor dem Kurtulus-Nachfolger Til Schweiger: „Ich gehöre nicht zu den Menschen, die sich eine Meinung zu etwas bilden, bevor sie es gesehen haben.“
Diesem Satz haftet eine gewisse Widerspenstigkeit an, und das passt. Aylin Tezel trinkt zwar gerne Kamillentee, isst am liebsten Stracciatella-Eis, tanzt in ihrer Freizeit mit Passion und sagt gerne demütige Sätze wie: „Ich empfinde mich immer noch als Anfängerin und habe das Gefühl, dass ich jeden Tag was Neues lerne.“ Aber das Kind eines türkischen Arztes und einer deutschen Krankenschwester sagt auch, wenn sie nach der Aussprache ihres Nachnamens gefragt wird: „Tezel wie Gemetzel.“ Ein Spruch, der an Nora Dalay aus dem Tatort erinnert, die etwas kratzbürstig auftritt, die härter wirken will, als sie ist. Eine Frau, „die Karriere machen und mit ihrem Privatleben keine Zeit verschwenden“ will, sagt sie und beißt, mittlerweile in einem Dresdner Bahnhofscafé, schmatzend in ihren Apfelkuchen.
Wenig später im Regionalzug nach Hof wird sie – die mit 14 Jahren den Tanz für sich entdeckte und eine Ausbildung zur Tanzpädagogin machte – zwei schöne Sätze sagen: „Der Tanz ist immer da. Auch wenn ich nicht tanze, denke ich manchmal ‚in Tanz‘.“ Dabei springt ihr aus dem Fenster gerichteter Blick von Haus zu Baum, von Baum zu Haus. Auch Lara aus Am Himmel der Tag ist eine Art Tänzerin, eine, die Mädchen küsst und Wände bunt anstreicht. Eine, die durch eine ungewollte Schwangerschaft aber ihre Rolle findet, sich von ihren Eltern, ihren Freunden und ihrem bisherigen Leben emanzipiert.
Bis das Herz des ungeborenen Kinds aufhört zu schlagen. „Nabelschnurumschlingung“ heißt das grausame Wort. Wenn man Lara zusieht, wie sie sich dagegen wehrt, ihre neue Identität zu verlieren, erlebt man einige der traurigsten Momente im diesjährigen deutschen Kino. Als Aylin Tezel im Zug von der Rolle spricht, sagt sie etwas stotternd: „Du funktionierst während des Drehs, aber als Schauspieler ist man keine Maschine. Du beschäftigst dich auch als Mensch mit diesem Thema“, weswegen sie die Geschichte ein „Stück weit mit nach Hause“ genommen habe.
Im Vergleich zum Kino wirkt sie als Tatort-Kommissarin noch recht eindimensional. Aber ist erst die Geschichte des vom Leben geschüttelten Hauptkommissars Faber weitererzählt, ist auch Raum da, Tezels Rolle zu entwickeln. Ihr Repertoire scheint dabei grenzenlos zu sein – sie spielte bislang unter anderem ein Einwandererkind, Aschenputtel, ein Missbrauchsopfer, eine Selbstmordattentäterin.
Jenseits ihrer Rollen beschäftigt sich Aylin Tezel mit Regie. Derzeit fährt sie auch wegen eines von ihr verfassten fiktiven Kurzfilms (natürlich einer, der vom Tanz erzählt) mit der Bahn durch Deutschland. Ihr Regie-Debüt gab sie 2011 mit einer Dokumentation über den britischen Tanzpädagogen Royston Maldoom. Der Choreograf hat einen stark sozialen Ansatz; etwas, das auch Aylin Tezel in sich trägt. Über Lara, die Tänzerin, sagt sie: „Im Gegensatz zu ihr hatte ich in Form meiner Eltern und meines Tanzlehrers Unterstützer.“ Viele hätten aber keine Mentoren. Das Bildungssystem sei nicht darauf angelegt, Stärken junger Menschen zu erkennen. „Das muss geändert werden.“ Heißt: Sie will ändern, Schulen besuchen gehen und für eine Stunde Vorbild sein.
Schließlich erreicht der Zug Hof. Sie steigt aus, schaut am Bahnsteig kurz einmal nach oben. Am Himmel der Tag. Marco Maurer