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Wir Serientäter

Nie waren TV-Serien besser. Nie spielten sie eine wichtigere Rolle im Sozialleben. Um sie genießen zu können, braucht man aber auch eine gewisse Entspanntheit.

Was ist bloß in den vergangenen Jahren passiert? Ein guter Freund erzählt, immer wenn man ihn trifft, diese oder jene neue Serie müsse man sich unbedingt ansehen. Er klingt dabei stets dringlich. Eine Freundin quengelt seit Monaten am Telefon, ob man nun endlich über die zweite Staffel »Borgen« hinausgekommen sei. Sie habe da was zu besprechen. Zeitungen und Blogs beschwören, dass diese oder jene Superserie doch bitte direkt von der Produzentenfeder in unser Hirn fließen solle. Augenscheinlich eilt es auch hier. Zuletzt wurde man an so vielen Bushaltestellen und U-Bahn-Plakatwänden mit »Narcos«, der neuen Netflix-Serie über ein Drogenkartell, oder der neuesten Staffel der Gefängnis-Serie »Orange Is the New Black« konfrontiert, dass man ein schlechtes Gewissen bekam, wenn man nicht sofort nach dem Nachhausekommen TV-Gerät oder PC einschaltete. Sollten wir nicht die Pause-Taste drücken?
Der Erwartungsdruck, jede Serie zu kennen, eine Meinung zu ihr zu entwickeln und sie im Originalton zu verfolgen, ist enorm. Dem sollten wir uns nicht beugen. Das heißt nicht, dass man das Goldene Zeitalter des Fernsehens nicht nach Strich und Festplattenrekorder genießen sollte. Eine Episode von »Game of Thrones« hat ein größeres Budget als vier »Tatort«-Folgen und das sieht man! Wir fühlen mit den Figuren mit, wissen nicht, ob wir Mister Draper aus »Mad Men« bewundern oder bemitleiden sollen, ärgern uns noch heute über das »Lost«- Finale und fiebern auf David Lynchs Neuentwurf von »Twin Peaks« hin wie auf die nächste Fußball-WM.
Serien sind etwas Soziales nicht nur, weil wir uns in fremde Welten einfühlen, sondern auch, weil sie als Small-Talk-Schmiermittel wirken. Der ultimative Einstieg für steife Tischgespräche: »Und was denkt ihr, was mit Tony Soprano wirklich passiert?« Jeder ist ein Serien-Experte, weiß nicht nur, wer Don Draper, Walter White, Frank Underwood oder Birgitte Nyborg ist, sondern in welche Affären sie verstrickt sind und wie sie gerne jeweils ihr Steak hätten. Dass viele aber wie Junkies nach dem nächsten Serien-Schuss aus den USA oder Skandinavien gieren, ist übertrieben. Warum dieser absurde Stress? Warum nehmen wir uns nicht den Umgang mit Literatur oder Musik zum Vorbild? Es ist uns ja auch egal, ob wir die neue David-Bowie-Platte oder den Roman des aktuellen Literaturnobelpreisträgers (von dem man wie immer noch nie zuvor gehört hatte) genau einen Tag nach Veröffentlichung durchgearbeitet haben. Wir wissen, irgendwann kommt die Zeit für diese Werke denn wahre Kunst wirkt immer. Im Leben gibt es genug Verpflichtungen. Wir müssen uns im Studium oder Job beweisen und versuchen, die Eurokrise zu verstehen. Das kann einen schon mal überfordern. Den künstlichen Aktualitätsdruck, immer die neueste Serie zu verfolgen, sollten wir abwehren. Wenn jemand statt »Narcos« lieber Maximilian Glanz zusieht, einer durchgeknallten Figur aus der Helmut-Dietl-Serie »Der ganz normale Wahnsinn« das ist voll okay. Auch den 1980er-Jahre-Hit kann man, muss man aber nicht gesehen haben. Denn Serien sind nur eines: Freizeit. Marco Maurer